LIVE: Volksaufstand gegen Netanyahu und für Israel: 700.000 auf den Straßen des ganzen Landes

Von Dr. phil. Clemens Heni, 27. März 2023

Nach der gestrigen Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant, der doch noch Mut hatte und am Samstag in einer Video-Botschaft seine eigene Regierung aufforderte, die geplante Justizreform auszusetzen, durch Benjamin Netanyahu abends gegen 22 Uhr Ortszeit, gibt es aktuell (Montagmorgen kurz vor 1 Uhr Ortszeit Israel) einen regelrechten Volksaufstand. Es wird geschätzt, dass aktuell bis zu 700.000 Menschen – mitten in der Nacht – auf den Straßen sind, und gegen die Entlassung des Verteidigungsministers und die gesamte Politik von Netanyahu demonstrieren. Darunter sind Zehntausende Reservisten, Elitesoldat*innen, Polizist*innen, Geschäftsleute, Linke, Liberale, die breite Mitte und auch Konservative und gar einige Religiöse.

700.000 Demonstrant*innen auf den Straßen – in einem Land mit 9 Millionen Einwohner*innen!!!

Sie demonstrieren vor den Privatadressen von Ministern oder auch dem Regierungssitz von Netanyahu. Die zentrale Autobahn in Tel Aviv, der knapp 30km lange Ayalon Highway, den alle kennen, die je in Israel waren, ist blockiert. Das kam in den letzten 12 Wochen schon häufig vor, aber nie von so vielen Zehntausenden wie heute und bislang auch nicht mit brennenden Barrikaden. Es ist Volksaufstands-Zeit!

Wer diese Bilder sieht, merkt, das ist ein Volksaufstand:

Jetzt gibt es auch Feuer. Game over, Bibi.

Der ehemalige Chef des Mossad Efraim Halevy, sprach im TV-Sender CNN in scharfen Worten gegen die geplante Politik von Netanyahu. Dabei wird auch eine Stellungnahme der ehemaligen Botschafterin Israels in Frankreich Yale German, die im Februar 2023 aus Protest zurücktrat, eingespielt.

Halevi sagt, dass Netanyahu ein Lügner ist, da er vor der Wahl nichts zu dieser geplanten Justizzerstörung gesagt habe und die Wahl ganz sicher verloren hätte, wenn das als ein zentraler Programmpunkt seines Wahlprogramms bekannt gewesen wäre. Halevi wurde vor Jahren von Netanyahu als Chef des Mossad eingesetzt. In dem Gespräch mit CNN geht die Moderatorin auch auf die schockierenden Gewaltexzesse in Huwara im Westjordanland ein, als nach dem Mord an zwei Juden durch Palästinenser Häuser und Autos der Palästinenser durch Siedler angezündet wurden und ein Mensch ermordet wurde, Dutzende wurden verletzt. Der israelische Finanzminister Smotrich sprach sodann davon, man solle die Stadt von der Landkarte wischen, also zerstören. Sein späteres Dementi war lachhaft, er wurde von Netanyahu nicht entlassen. Schließlich geht es in dem faszinierenden CNN-Gespräch um den von China eingefädelten Deal von Saudi-Arabien mit dem Iran. Der Ex-Mossad Chef betont, dass Israel eigentlich gar keinen Konflikt mit dem Iran habe, keine gemeinsame Grenze etc., und dass man genauer schauen müsse, gerade als Israeli, wie die Chinesen das geschafft hätten, was der Preis war und ob es nicht für Israel eine Möglichkeit geben könnte, sich mit dem Iran zu verständigen …

Als die Leute von dem Rausschmitt Gallants aus der Regierung hörten, kamen sie aus der Philharmonie, Frauen in High-Heels und mit Stolas, Leute rannten aus Restaurants und alle strömten zum Kaplan Platz und zur Stadtautobahn Ayalon. Die Polizei versuchte anfangs, die Demonstrant*innen aufzuhalten, aber es war eine unglaublich riesige Gruppe, Zehntausende.

Es geht um jede Sekunde und Stunde. Morgen früh ab 8 Uhr möchte der rechtsextreme Vorsitzende des Justiz- und Verfassungs-Ausschusses Simcha Rothman die Gesetzgebung eines Gesetzes zur Wahl der Höchsten Richter fortführen und noch am selben Abend das Gesetz, das der Regierung die Macht geben würde, Höchste Richter nach ihren politischen und nicht juristischen Vorlieben zu bestimmen, mit aller Gewalt durch die Knesset peitschen.

Was jetzt zählt ist: Rücktritt von Netanyahu, sein Ende als Politiker, seine Anklage und dann mal sehen, ob er in Freiheit oder im Gefängnis seinen nächsten Hochzeitstag verbringt. Aber das ist egal.

Rücktritt der ganzen Regierung, die Israel in seinen Grundfesten zerstören will, intentional, sie wollen keinen Rechtsstaat, weil sie nationalistische, rechtsextreme und zumal religiöse Fanatiker sind.

Sie müssen gestoppt werden.

Es geht um den Zionismus und Israel als demokratischen Rechtsstaat.

Der ehemalige israelische Regierungschef Ehud Barak betont in aller Schärfe, dass ein bloßes Verschieben oder Aussetzen der Abstimmung die Proteste überhaupt nicht beende würde. Es geht um ein ENDE dieser Justizreform, die eine Zerstörung der Unabhängigkeit der Justiz wäre, religiösen Extremisten die Möglichkeit geben würde, eine Gender-Apartheid in Bussen durchzusetzen oder weiterhin die Sonderregelung für die Religiösen bedeuten würde, nicht zur IDF gehen zu müssen. Nun kann ich verstehen, wenn man keine Lust auf Krieg hat – aber die Begründung ist religiös, nicht rational und in Israel ist es überlebensnotwendig eine sehr starke Armee zu haben, von der auch die Religiösen profitieren, aber überhaupt nichts für die IDF leisten.

Dass es der übergroßen Mehrheit der Protestierenden nicht um die Besatzungspolitik geht und dass eine militärische Sprache überhand nimmt, die von Krieg redet und damit Bürgerkrieg meint, das ist selbst für israelische Verhältnisse neu.

Gallant, der noch am Donnerstag von Netanyahu zensiert wurde, hat zwei Tage später eben doch noch seine Meinung gesagt und berichtet, dass er noch nie eine so dramatische Stimmung in der israelischen Armee erlebt hat wie derzeit. Die Soldat*innen sind nicht bereit, für diese Regierung zu üben, geschweige denn zu kämpfen.

Eine Ironie am Rande: wann gab es zuletzt Demonstrationen gegen die aktuellen Zustände in Israel, die ausgerechnet in London mit Israelfahnen bestückt waren?

DAS Symbol des Protests ist die blau-weiße Fahne mit dem Davidstern. Es kam schon vor, dass rechtsextreme Schlägertrupps Menschen mit einer Israelfahne in Israel (!) angriffen, weil sie denken (zu Recht), dass es sich hierbei um zionistische Kritiker*innen der aktuellen Regierung handelt.

Bislang war ja die Israelfahne in Israel eher Symbol der Rechten.

Jetzt aber ist sie zu dem Symbol des Zionismus geworden, zum Symbol für Vielfalt, LGBTQ+, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und für Minderheitenrechte. Doch dass daraus eine radikale Kritik der Besatzungspolitik erwächst, ist eher unwahrscheinlich, darum geht es kaum bis gar nicht. Der extreme Rechtskurs von Netanyahu hat das Land erschüttert wie nichts seit 1973 und dem Yom Kippur Krieg, wie die Times of Israel schreibt.

Es kann jetzt nicht um ein Aufschieben dieser diktatorischen Gesetzung auf die Zeit nach Pessach, also auf Mitte/Ende April 2023 gehen, wie es jetzt selbst Netanyahu in Erwägung zieht. Es muss um ein Ende der Justizzerstörungs-‚Reform‘ gehen. Das betont auch Ehud Barak, es sein ein point of no return erreicht. Die Demonstrationen werden nicht aufhören, bis alle rechtsextremen Gesetzgebungsideen von Yariv Levin, Ben Gvir, Deri und Netanyahu und alle anderen komplett vom Tisch sind.

Yalla, es lebe der Zionismus! Nieder mit Netanyahu, korrupten, nationalistischen und religiösen Extremisten, Platz für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

 

Update 9:34 Uhr:

Der Chef der Gewerkschaft Histadrut Arnon Bar-David, droht mit

einem nie dagewesenen Generalstreik, wenn die geplante Justizzerstörungsaktion von Netanyahu nicht gestoppt wird. Dieser Generalstreik würde alle Bereiche der Gesellschaft betreffen, auch Krankenhäuser etc. Schon heute könnte der Generalstreik beginnen. Schon heute kündigen Kindergärten an, zu schliessen, Einkaufszentren schließen gegen Mittag und Morgen öffnen viele Geschäfte überhaupt nicht.

Der ehemalige Minister und Ex-Netanyahu Vertraute und Vorsitzende der Partei Israel Beytenu (Unser Haus Israel) Avigdor Liberman, fordert den Likud auf, Netanyahu und Justizminister Levin auszuschließen bzw. zu entlassen. Die gestrige Blockade der Ayalon Stadtautobahn gingen laut Times of Israel bis ca. 4 Uhr am Morgen.

9:58 Uhr

Der Flughafen Ben-Gurion ist im Streik. Offenkundig hatte wenige Minuten zuvor Bar-David tatsächlich den historischen Generalstreik ausgerufen.

Schon gestern Abend berichtete Haaretz, dass der israelische Generalkonsul Asaf Zamir in der weltweit größten jüdischen Stadt (in keiner anderen Stadt leben mehr Juden) – New York City – seinen Rücktritt erklärt hat. Er gab eine Erklärung auf einer Veranstaltung im jüdischen Museum New York vor 900 Gästen ab.

10:12 Uhr:

Der Präsident Israels Isaac Herzog forderte laut Jerusalem Post heute Morgen die Regierung auf, die geplante Justizreform sofort, also HEUTE, zu stoppen. Das Land wäre am Rande eines Kollapses, weil weite Teile der Bevölkerung, der Armee und aller zentralen Einrichtungen gegen die geplante Justizreform sind und es letzte Nacht Gewalt und Barrikaden gab.

11:13 Uhr:

Die Rechtsextremen, Rassisten, Schläger und Hooligans des Beitar Jerusalem Fußballclubs von „La Familia“ („Death to Arabs“) kündigen an, heute Abend um 18 Uhr Ortszeit auf die Kaplanstraße in Jerusalem zu marschieren. Der Knessetabgeordnete und Vorsitzende des Justiz- und Verfassungsausschusses Simcha Rothman von der Partei Religiöser Zionismus forderte seine Anhänger (wie La Famlia) auf, zu demonstrieren. Schon jetzt fahren Tausende Kritiker*innen der Regierung mit Zügen und Autos in Richtung Jerusalem, um gegen die Justizzerstörung vor der Knesset zu demonstrieren. Die Kaplan Street führt am Rosengarten vorbei direkt zur Knesset. Auch in Tel Aviv gehen die Demonstrationen über die Kaplanstraße.

Ben Gvir droht, dass die Regierung platzen wird, wenn Netanyahu die Gesetzgebung stoppen sollte. Schön wär’s!

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