Eine 3-Staatenlösung in Israel? Oder eine Versöhnung mit Jaffa-Keksen?

Von Dr. phil. Clemens Heni, 03. April 2023

Das Wort „Hinterland“ kennen viele sicher von dem links-autonomen Slogan „Aufruhr Widerstand – Es gibt kein ruhiges Hinterland“. Doch vielleicht ist dem nicht so, vielleicht wollen die Hinterwäldler Hinterwäldler oder Hinterländler sein und bleiben. Das Wort hinterland wird – kleingeschrieben – auch im Englischen verwendet, wie ein faszinierender Blog-Text in der Times of Israel (TOI) zeigt.

Der Historiker Martin Wein schlägt eine 3-Staatenlösung vor: Einen neuen Staat Tel-Aviv-Jaffa, Israel und Palästina. Kurz gesagt haben die weltlichen Zionist*innen in Tel Aviv die Schnauze gestrichen voll vom reaktionären Hinterland. Die seit 13 Wochen kontinuierlich andauernden Massendemonstrationen gegen Netanyahu und seine rechtsextreme Regierung sind der Beweis, wie enorm tief gespalten Israel ist. Wein sieht den Ursprung des Endes eines liberalen Zionismus für ganz Israel in der Ermordung von Yitzhak Rabin am 4. November 1995. Seitdem und zuletzt als Import aus den USA hätten sich parallele Welten in Israel verfestigt: jene der „femininistischen“, „säkularen“ und „queeren“ Leute, die fast ausschließlich in Tel Aviv-Jaffa leben würden, und dem „Rest“, dem elenden „Hinterland“.

In diesem Hinterland leben die Ben Gvirs, jener vorbestrafte, rechtsextreme, antifeministische und homophobe Schläger, der nicht mal von der israelischen Armee aufgenommen wurde, weil er zu extrem war. Der bekommt jetzt eine eigene Privatarmee von 2000 Personen, eine „Nationalgarde“. Das erinnert an Diktaturen wie in Nicaragua, wo es auch eine solche Nationalgarde gab. Das israelische Kabinett hat diesem Projekt zugestimmt, jedes Ministerium verkürzt seinen Etat um 1,5 Prozent, damit Ben Gvir eine Milliarde neue israelische Schekel, das entspricht 278 Millionen US-Dollar, für seine quasi Privatarmee erhält, also jährlich im Budget der Regierung.

Was könnte man mit so viel Geld nicht alles Sinnvolles machen. Zum Beispiel Aufklärungsprogramme für ultraorthodoxe Frauen, wie Verhütung geht, dass Abtreibung ein Frauen- und Menschenrecht ist und dass sich Frau-Sein ganz sicher nicht über Mutter-Sein definiert. Aber vermutlich wäre so ein Programm ein no-starter, warum sollten die Frauen weniger fanatisch sein wie die Männer? Gibt es dafür Indizien?

Der ehemalige israelische Polizeipräsident von 2004 bis 2007 Moshe Karadi sieht in dem Plan von Ben Gvir ein „Rezept für eine Katastrophe“. So könnte der rechtsextreme Schläger Ben Gvir als Minister, der er ist, dieser Nationalgarde befehlen, Zehntausende Demonstrant*innen vom Ayalon-Highway in Tel Aviv zu fegen, während die Polizei in Tel Aviv ein solches Verhalten für unverhältnismäßig und gegen das Grundrecht auf Demonstration ansehen würde, wie die Erfahrung der letzten Wochen beweist.

Daher gab es bislang auch häufig eine Duldung solcher Blockaden, auch wenn es teils Gewalt von berittener Polizei und von Wasserwerfern gab. Doch eine ausschließlich politisch orientierte Nationalgarde hätte mit einer Demokratie und einer Gewaltenteilung nichts mehr zu tun.

Netanyahu, der wegen Korruption Angeklagte, extreme Opportunist und mittlerweile sehr wohl nicht mehr liberale, sondern rechtsextreme Aktivist, der selbst kürzlich am Shabbes in London in nicht koscheren Restaurants dinierte, aber jetzt ein Gesetz verabschiedet, nachdem Patient*innen im Krankenhaus (!) in Israel zu Pessach keine gesäuerten Lebensmittel essen dürfen – gestern wurden einer schwangeren Frau Kekse im Krankenhaus weggenommen, womöglich auch noch Jaffa-Kekse! -, hatte Ben Gvir die Zusage zu dieser paramilitärischen Einheit gegeben, da Ben Gvir die Koalition nicht verließ, obwohl Netanyahu die geplante Zerstörung der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit des Obersten Gerichts (lediglich) um fünf Wochen verschob. Ab dem 1. Mai, in der Sommersitzungsperiode der Knesset, plant die rechtsextreme Regierung weiterhin ohne jedes Zugeständnis, ohne jeden Kompromiss an ihrer „Justizreform“ festzuhalten, die sowohl die Wahl der Obersten Richter*innen durch die jeweilige Regierung als auch die Möglichkeit mit nur einer Stimme Mehrheit Urteile des Obersten Gerichts zu annulieren vorsieht.

Moshe Karadi sieht in der neuen Nationalgarde, einer Art Privatarmee für Ben Gvir, eine Analogie zu den islamistischen Revolutionsgarden im Iran, so die Times of Israel. Auch der ehemalige Polizeipräsident Assaf Hefetz sieht in der neuen Nationalgarde eine extreme Gefahr, es gebe doch bereits eine Polizei und ein Militär, die jeweils demokratisch kontrolliert würden und eigenständig seien, das sei völlig ausreichend.

Man muss sich wirklich einmal vorstellen. Bis ins Jahr 2020 hing zu Hause im Wohnzimmer von Ben Gvir ein Bild des Massenmörders Baruch Goldstein, der am 25. Februar 1994 in Hebron 29 Muslime in einer Moschee massakrierte. Dass ein solcher Pro-Terrorist wie Ben Gvir überhaupt Minister wurde ist ein Skandal und eine Schande für den Zionismus und Israel. Das wäre wirklich ein seriöser Grund, Israel zu boykottieren. Eine Regierung, die einen Fascho wie Ben Gvir in ihren Reihen hat, hat keinerlei Legitimation.

Aber das Problem sind natürlich jene gut 48 Prozent Israelis, die Ben Gvir, Vorsitzender der rechtsextremistischen Anti-Abtreibungs-Partei Otzma Yehudit, Smotrich, Vorsitzender der Partei Ha-Ichud HaLeumi – Tkuma oder den Likud unter Netanyahu gewählt haben. Der vorbestrafte Vorsitzende der religiösen Schas-Partei Arje Deri, Vater von neun Kindern (die laut Forbes Magazin „mächtigste Frau der Welt“ und Präsidentin der EU Kommission Ursula von der Leyen, hat nur sieben!), unterstreicht nochmal, was für ein kriminelles Potential im Kabinett Netanyahu VI steckt.

Ähnlich wie der Historiker Martin Wein plädiert auf den Blogs der Times of Israel, der wohl größten Plattform für zionistische Blogger*innen weltweit, die neben den professionellen Journalist*innen der TOI dort publizieren, auch der ehemalige Leiter des Presseamtes der israelischen Regierung von 1977 bis 1982 Zev Chafets für eine „Teilung des Landes“. Es sei vollkommen aussichtslos, säkular-weltlichen Zionist*innen in Tel Aviv die Weltsicht der Ultraorthodoxen von Jerusalem näher zu bringen. Und der regelrechte Hass vieler fanatischen Religiösen gegenüber den Weltlichen ist unübersehbar. Daher: Teilung des Landes.

Der zionistische Traum ist am Ende. Es wird aller Voraussicht nach kein geeintes Israel mehr geben, und auch keine Zweistaatenlösung. Die Palästinenser sind dafür nicht reif, ihr Antisemitismus steckt viel zu tief, und damit sind nicht nur die Hamas und der Islamismus verantwortlich, sondern auch säkulare Antisemiten in der Folge der PFLP und anderer Terrorgruppen.

Die Bevölkerungspolitik der Islamisten („Macht nicht drei, sondern fünf Kinder, denn ihr seid die Zukunft Europas“, sagte Erdogan am Freitag im westtürkischen Eskisehir, März 2017) wie der jüdischen Extremisten wird Israel nicht nur verändern, sondern im zionistisch-weltlichen Kern zerstören. Wer sich anschaut, wie jüdische Fanatiker ihre Torah-Indoktrinationsgebäude in jedem Stadtteil von Jerusalem ausbreiten, merkt, wie fanatisch und obsessiv da vorgegangen wird. In diesem Text ist ein Video verlinkt zu „Jerusalem: the secular struggle“ und ich bin froh, dass meine beiden Freund*innen Schaul und Hanna aus Jerusalem, die beide Anfang der 1920er Jahre in der Weimarer Republik bzw. in Österreich geboren worden waren und Ende der 1930er Jahre gerade noch so den Nazis entkommen konnten und sodann das Land Israel, den zionistischen Traum verwirklichten und vor wenigen Jahren, jeweils über 90 Jahre alt, starben, das nicht mehr erleben müssen.

Der Historiker Martin Wein, der über 10 Jahre lang die Geschichte Tel Avivs unter anderem an der Universität Tel Aviv unterrichtete, meint das durchaus ernst, auch wenn ihm die realitätsferne Dimension seiner Fantasie klar sein dürfte:

If a “Velvet Divorce” can be achieved, the solution of Tel Aviv and Jaffa (plus Herzliya?) quitting the State of Israel is a good one, and not only for the city-state, but also for the entire country. This division will not weaken Israel, but help it to re-evaluate its power balances. It can in and of itself serve as a model for a future division of the entire land between Israelis and Arabs in an orderly, agreed upon, and functional manner. (…) There are many models of small or miniature countries in the world. It should be possible to reach similar arrangements that have been successfully implemented elsewhere and adapt them to the current situation without reaching a crisis point with Jerusalem. It is especially important to allow the free movement of people and trade via a security membrane. At least until the construction of an industrial port in the territory of the city-state, Tel Aviv-Jaffa will be dependent on supplies via Israel. But it would already be possible to start daily fast ferry services for passengers to places such as Larnaca, in Cyprus (with an international airport). Jaffa, perhaps the world’s oldest continuously used port city, may soon become – together with Tel Aviv and Herzliya – the UN’s newest, 194th member state.

Eine solche Lösung ist natürlich keine Revolution, sondern immanent-kapitalistisch. So wie viele, die von „Klimaneutralität“ reden, doch nur den Profit der Solar- und Windenergie-Fonds meinen. Aber es wäre ein angenehmeres Leben in Tel Aviv, ohne 20.000 rechtsextreme Schläger, die letzte Woche quasi im Auftrag der Regierung (!) aus dem ganzen Land anreisten und eine Demonstration für die geplante Justizzerstörung in Tel Aviv abhielten – am Samstag darauf, vorgestern, waren wieder ca. 200.000 gegen die Politik von Netanyahu und die „Reform der Justiz“ auf den Straßen von Tel Aviv – einer Stadt mit weniger als 500.000 Einwohner*innen, dazu gab es Demos in weiteren 150 Städten und Gemeinden.

Zef Chafets hat einen realistischen Blick auf das Land. Er möchte keine 3-Staatenlösung, sondern erstmal eine politisch-kulturelle Trennung des denkenden und des religiösen Teils des Landes. Er ist wie alle Menschen, die er kennt – wirklich alle! – bei den Demonstrationen in Tel Aviv auf der Straße. Aber den Schlachtruf nach „Demokratie“ schreit er nicht mit. Weil es nämlich eher zu viel Demokratie gebe, nicht zu wenig, wie er schreibt. Die Massen an religiösen Fanatiker*innen hassen zwar die Demokratie, aber sie lieben die Wahlen – weil sie die auch in Zukunft immer, wirklich immer, gewinnen werden. Wenn eine säkulare Frau in Tel Aviv nur zwei Kinder oder – Gott behüte! – gar keine bekommt und ihre Schwester in der besetzten Westbank 11 Kinder, und diese Kinder von Geburt an indoktriniert werden und es extrem schwer haben werden, zu selbst denkenden Wesen zu werden, dann ist das Schicksal des Landes Israel besiegelt.

Zef Chafets schreibt:

Like everyone I know (or care to know) I have been demonstrating in the streets of Tel Aviv. But I have not joined my fellow protesters in their chants for dem-o-cratia! It is a battle cry that misunderstands the real crisis that Israel faces. There is too much democracy here, not too little.

The government headed by Bibi Netanyahu was elected fair and square. Nobody is accusing the winners of voter fraud, intimidation, or sleight of hand. The contest was a pure exercise in electoral democracy. The people spoke.

Chafets war schon vor bald 30 Jahren ein sehr weitblickender Analyst. 1996 forderte er in einer dreiteiligen Artikelserie im „Jerusalem Report“ eine solche Teilung des Landes zwischen Säkularen und Religiösen. Es sei zweck- und sinnlos, die jeweils andere Seite zu überzeugen.

Die avisierte 3-Staatenlösung von Martin Wein ist insofern noch hellsichtiger, als sie explizit die Palästinenser, deren Unerbittlichkeit im Kampf gegen Israel er keineswegs ignoriert, mit einbezieht. Es wäre eine 3-Staatenlösung, zwei fanatische Einheiten für Juden beziehungsweise Muslime und Palästinenser, und einen weltoffenen, kleinen Hafen der Freude und Vielfalt (immer natürlich unter dem Diktat des Ware-Seins des Menschen unterm Kapitalismus) in Tel Aviv-Jaffa.

Schließlich gilt schon seit sehr langer Zeit: ein Leben ohne Jaffa-Kekse wäre zwar möglich, aber völlig sinnlos, wie der Spiegel 2019 berichtete.

Screenshot, https://www.aldi-nord.de/sortiment/snacks-suessigkeiten/kuchen-gebaeck-kekse/jaffa-cake-3507-0-0.article.html
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.