Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)
Ein Gespräch mit dem legendären Juristen, Rechtswissenschaftler und Public Intellectual Irwin Cotler mit der Times of Israel (TOI) vom 6. Juli 2025 ist von großer Bedeutung. Darin heißt es:
„Israel musste sich der Hamas nicht allein stellen. Es hätte eine internationale Koalition mobilisieren und den Krieg abwenden können“, sagt Cotler.
„Es hat nie einen integrierten rechtlichen, diplomatischen, politischen und militärischen Strategieplan aufgestellt. Stattdessen verließ es sich ausschließlich auf eine militärische Strategie – ohne einen Plan für den Tag danach zu haben. Und selbst diese militärische Lösung hat ja offenkundig nicht wirklich funktioniert“. (Übersetzung aus dem Englischen von CH)
Das ist von großer Bedeutung. Cotler, kanadischer Zionist, Professor für Rechtswissenschaft an der McGill University in Kanada und seit 1966 regelmäßig in Israel, weiß, wovon er spricht. Er war am 7. Oktober 2023 in Israel und hat die unschilderbaren Verbrechen der Muslimfaschisten der Hamas und anderer Palästinenser mit erlebt, sie wurden ja von den Jihadisten teils live übertragen, auf Social-Media-Accounts von massakrierten Opfern gepostet und so weiter und so fort. Es waren unschilderbare Verbrechen, die Cotler nicht einmal von Berichten von den genozidalen Massakern in Ruanda her kannte, womit er sich als Jurist viel beschäftigt hat.
Cotler war vermutlich schon im Oktober 2023 weitsichtiger als wir alle – mit „wir alle“ meine ich die zionistische Fraktion, die sich hinter Israel stellte und stellt und den Krieg gegen die Hamas wenigstens am Anfang für richtig hielt.
Doch das Zitat von Cotler eingangs dieses Textes meint ja etwas anderes. Er meint, mit diplomatischen Mitteln wäre es ab Oktober 2023 möglich gewesen, international so starken Druck auf die Hamas, die Palästinenser und die arabische Welt wie auf den Finanzier der Islamfaschisten in Gaza oder dem Libanon und Syrien, den Iran, aufzubauen, dass es pro-israelisch ausgegangen wäre. Ob das stimmt?
Womöglich ja, denn selbst jetzt wird ja über die Erweiterung der Abraham Verträge verhandelt, von Washington aus. Doch Israel hat sich international gleichwohl so stark isoliert wie wohl noch nie in seiner Geschichte. Und das liegt an Benjamin Netanyahu und seiner rechtsextremen Regierung.
Sie wollten 2023, vor dem 7. Oktober, die Gewaltenteilung in Israel aushebeln und wollen das bis heute. Die geplante Entlassung der Generalstaatsanwältin schockiert Cotler bis ins Mark. Denn er, der links-liberale Jurist, den ich auf Konferenzen in den letzten 20 Jahren mehrmals persönlich getroffen habe, hat international in Diskussionen immer darauf bestanden, dass Israel eine stabile Demokratie sei, in der die Rechtsprechung und die Gewaltenteilung funktionierten würden.
Aktuell plant Israel „Auffanglager“ für 600.000 Palästinenser*innen in Rafah im Gazastreifen. Nach einer Sicherheitsprüfung, dass es sich nicht um Hamas-Kämpfer handelt, dürfen die Menschen danach dieses Lager nicht mehr verlassen und sollen zudem zur Auswanderung ‚bewegt‘ werden. Das sind offenkundig völkerrechtswidrige Vorhaben, die bekämpft gehören.
Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten? Das alles steht seit Jahren in Frage, aber noch nie so extrem wie aktuell. Und das liegt exakt an einer Person: Benjamin Netanyahu.
Es gibt die neue Partei der Demokraten, Gilad Kariv zum Beispiel, Politiker und Rabbiner, der alle paar Tage in der Knesset oder wo anders eine scharfe Rede gegen Netanyahu hält, für Frieden und für ein sofortiges Endes des Gazakrieges, die sofortige Freilassung aller Geiseln und die Zerstörung der Hamas plädiert. Das ist widersprüchlich, aber so reden Politiker eben und es ist um Äonen besser als die antidemokratische und kriminelle Politik von Benjamin Netanyahu, der im Leben nichts außer sich kennt und für nichts kämpft, außer für sein eigenes politisches Überleben.
Gilad Kariv sprach am 4. Juli auf dem Parteitag der Demokraten und plädierte in scharfen Worten für ein Ende des Krieges und betont, dass militärische Siege ohne politische Strategie, also einen Plan nach der Hamas, höchst gefährlich sind und Israel dem Nationalismus verfallen wird, wie es schon nach dem Sechstagekrieg von 1967 befürchtet wurde und ja auch so kam.
Kariv ist für einen liberalen oder linken Zionismus, für Israel als jüdischer und demokratischer Staat, gegen die jüdische Siedlergewalt im Westjordanland, für eine Einbeziehung der wohlgesonnenen arabischen Nachbarn für einen umfassenden Frieden – das ist nicht „naiv“, wie er betont, sondern folgt einer klaren „Strategie“: „Sicherheit UND Frieden“, für eine friedliche Trennung von Juden und Palästinensern, womit er sich für die Zweistaatenlösung, aber gegen die israelfeindliche Einstaatenlösung ausspricht.
Cotler und Kariv sind zwei wichtige Stimmen für Frieden, Rechtsstaatlichkeit und für den wahren Kern des Zionismus: Gerechtigkeit und Frieden.