The Berlin International Center for the Study of Antisemitism

Schlagwort: Walser

Der Militärstratege Maxim Biller, eine Hungersnot und Waffengewalt in Gaza

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Viele Deutsche und vor allem die kulturelle Elite des Landes, die sich doch sonst zu allem sofort und wortgewaltig äußern, haben am 7. Oktober 2023 geschwiegen oder gelacht – es ging ja auch nur um Juden, die massakriert wurden. Die Täter waren Palästinenser, nicht nur die Hamas und der Islamische Jihad, auch Zivilistinnen machten mit und feierten das Abschlachten von Jüdinnen und Juden oder kochten einen Hirsebrei für die verschwitzten und blutverschmierten Söhne und Brüder – in den Häusern der massakrierten jüdischen Israelis in den Kibbutzim, zum Beispiel in Nir Oz.

Wir haben es täglich mit Antisemitismus im Alltag zu tun, seien es verschleierte muslimische Frauen, die sich ein Palästinensertuch um die Schulter legen, wenn sie in den Bus einsteigen, säkulare linksradikale Antisemiten, die mit ihren Graffiti „Free Gaza“ Tod den Juden und Israel meinen, oder aber verdruckster und erinnerungsabwehrender im deutschen Mainstream, wie die Jüdische Allgemeine am 29. Mai 2025 berichtet:

Endlich ist die Vergangenheit Geschichte oder die Geschichte Vergangenheit. Das jedenfalls erklärt Gabor Steingart, Ex-Handelsblatt-Chefredakteur und Gründer von Media Pioneer, in seinem jüngsten Kommentar im Nachrichtenmagazin »Focus«. Denn »Deutschland war Gefangener der Hitlerzeit«, so behauptet er, und mit den kritischen Worten von Bundeskanzler Friedrich Merz an Israels Kriegsführung im Gazastreifen »hat diese Haltung ein Ende«.

Das ist der Ausgangspunkt.

Es muss darum gehen, Israel zu unterstützen und den Zionismus zu verteidigen.

Israel muss als jüdischer und demokratischer Staat erhalten bleiben.

Kampf gegen Antisemitismus heißt logisch auch Kampf gegen den Antizionismus.

Daher ist es auch so eine Katastrophe, dass ein Linker und Antizionist jetzt beste Chancen hat, Bürgermeister der Stadt mit den meisten Juden weltweit zu werden – in New York City.

Worum geht es? Der Schriftsteller Maxim Biller hat in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit eine seiner Kolumnen publiziert – Morbus Israel. Warum regen sich die Deutschen immer so über die Juden des Nahen Ostens auf?

Darin rechtfertigt er die Strategie, dass Palästinenser*innen in Gaza Hunger leiden und nimmt achselzuckend zur Kenntnis, ja verteidigt, dass immer wieder Palästinenser von israelischen Soldaten offenbar willkürlich erschossen werden.

Maxim Biller schreibt (Die Zeit, 26. Juni 2025, Feuilleton, S. 44):

Ja, wenn es um Israel geht, um Benjamin Netanjahu und die strategisch richtige, aber unmenschliche Hungerblockade von Gaza oder die rein defensive Iran-Kampagne der IDF, kennen die meisten Deutschen keinen Spaß.

Dass auch die israelischen Geiseln dann hungern – was juckt das den Superstrategen und Kolumnisten Biller? Hat er sich je mit den Angehörigen der Geiseln unterhalten, die seit über einem Jahr einen Deal fordern und panische Angst haben um ihre Liebsten, die durch die Hungersnot noch zusätzlich leiden?

Es gibt in der Tat Millionen ganz normale Deutsche, die wie ihre Großväter gegen ‚den‘ Juden kämpfen oder Israel mit den Nazis vergleichen, man schaue sich die täglichen Leserbriefe in jeder ganz normalen deutschen Tageszeitung an.

Das hat aber exakt gar nichts mit der internationalen Kritik an den vermuteten Kriegsverbrechen in Gaza oder der Siedlergewalt im Westjordanland zu tun und der religiös-extremistischen Ideologie und Praxis der israelischen Regierung.

Aktuell kritisieren zumal Zionisten in Israel ihr eigenes Land und die Kriegsführung.

Es geht um die Verteilung von Essenspaketen im Gazastreifen. Dazu schreibt die Haaretz, die links und zionistisch ist, am 27. Juni 2025 (alle englischen Zitate in diesem Text habe ich ins Deutsche übersetzt):

„Es ist ein Schlachtfeld“, sagte ein Soldat. „Wo ich stationiert war, wurden jeden Tag zwischen einem und fünf Menschen getötet. Sie werden wie eine feindliche Macht behandelt – keine Maßnahmen zur Kontrolle der Menschenmenge, kein Tränengas – nur scharfes Feuer mit allem, was man sich vorstellen kann: schwere Maschinengewehre, Granatwerfer, Mörser. Sobald das Zentrum geöffnet wird, hören die Schüsse auf, und sie wissen, dass sie sich nähern können. Unsere Art der Kommunikation ist das Gewehrfeuer“.

Der Soldat fügte hinzu: „Wir eröffnen frühmorgens das Feuer, wenn jemand versucht, sich aus einigen hundert Metern Entfernung zu nähern, und manchmal stürmen wir einfach aus nächster Nähe auf sie zu. Aber es besteht keine Gefahr für die Truppen.“ Ihm zufolge „ist mir kein einziger Fall von Gegenfeuer bekannt. Es gibt keinen Feind, keine Waffen.“

Was schreibt Maxim Biller nur einen Tag zuvor in der Zeit?

Kommt ein Israeli zum Arzt und sagt: »Herr Doktor, ich war gerade vierzig Tage mit meiner Einheit in Gaza und hab keine Lust mehr, auf Araber zu schießen. Was soll ich tun?« »Sie könnten damit natürlich sofort aufhören, wenn Sie wollten«, sagt der Arzt, »aber raten würde ich es Ihnen nicht. Auch nicht nach unserer Therapie.«

Das ist nicht lustig oder ‚scharf‘, sarkastisch oder polemisch, das ist zynisch und menschenverachtend.

Biller verachtet nicht ’nur‘ palästinensische Zivilist*innen (so übel die in weiten Teilen sein mögen und am 7. Oktober mitgemacht haben auf die eine oder andere Weise), sondern auch israelische Soldaten, die das nicht mehr aushalten und mit der Haaretz darüber sprachen.

Er verachtet noch mehr die Palästinenser*innen in Gaza, die ja schon zuvor zu Zehntausenden Opfer von israelischen Angriffen wurden, wovon offenbar sehr wohl auch bis zu 20.000 Hamas-Kämpfer waren, aber darüber hianus ca. 30.000 Zivilist*innen.

Die Redaktion der Zeit hat diese Abgründe des Textes nicht erkannt und der Text wurde gedruckt.

Dann gab es einen Aufschrei von einigen Leser*innen der Zeit und die Redaktion hat auf lächerliche Weise den auch online publizierten Text wieder depubliziert – nachdem er Hunderttausendfach gedruckt in jedem Kiosk vorliegt.

Das ist lachhaft und zeigt die doppelte Unprofessionalität der Zeit.

Wer von einer „strategisch richtigen Hungerblockade“ schreibt, ist ein Zyniker, kein Kritiker des Antisemitismus der Deutschen, den es ja ohne Ende in der Tat gibt.

Der Text von Maxim Biller schadet Israel und den Juden.

Biller ist keineswegs ein Polemiker wie es zum Beispiel Eike Geisel war, der den Antisemitismus der ganz normalen Deutschen zumal der frühen 1990er Jahre luzide attackierte und offenlegte.

Doch Biller ist kein Polemiker, er ist ein Zyniker, der im Kern die schlimmen Zustände, womit hier die israelische Kriegsführung gemeint ist, affirmiert und nicht aufheben oder bloßlegen möchte.

Er lebt offenkundig in einer Zeitschlaufe der Jahre 1998 bis 2002, als der antisemitische Schriftsteller Martin Walser im Oktober 1998 in seiner Paulskirchenrede die Abwehr der Erinnerung an den Holocaust im deutschen Mainstream fest verankerte und dafür vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ins Bundeskanzleramt eingeladen wurde, am 8. Mai 2002.

Zwar ist die Abwehr der Erinnerung weiterhin sehr weit verbreitet und hat mit dem Postkolonialismus noch ein weiteres linkes Muster des Antisemitismus hinzubekommen.

Doch heutzutage, nach 25 Jahren Pro-Israel-NGO-Szene, haben wir einen konservativen Kanzler, der sich bei Israel bedankt, das islamfaschistische Regime in Teheran in seine Schranken gewiesen zu haben, und „die Drecksarbeit“ für uns gemacht zu haben, einmal abgesehen davon, dass militärisch noch gar nicht klar ist, was genau erreicht wurde mit den israelischen und amerikanischen Militärschlägen im Iran. Ein Ende des islamistischen Regimes in Teheran ist leider nicht absehbar – doch Israel hat die Möglichkeit, jederzeit dort militärisch einzugreifen, was sehr wichtig ist.

Was Biller nicht erwähnt, weil es nicht passt: Der Bundestag, der den Ukraine-Krieg nicht diplomatisch beendet sehen möchte, sondern ihn weiter anfachen tut und auch die unerträgliche Aufrüstung beschlossen hat und Deutschland zu einem Militärstaat machen wird, der 20 bis 30 Prozent des gesamten Bundeshaushalts für Kriegsvorbereitung („Verteidigungshaushalt“) ausgeben wird die nächsten Jahrzehnte, hat die letzten Jahre Resolutionen gegen die antisemitische Boykottbewegung gegen Israel BDS sowie für den Schutz jüdischen Lebens verabschiedet.

Gleichzeitig haben wir eine aggressive zumal linke antisemitische Szene, die am 7. Oktober 2023, als Palästinenser und die Hamas 1200 Jüdinnen und Juden in einem genozidalen Massaker im Süden Israel, in Kibbutzim, Moshavs und auf einem Musikfestival auf unschilderbare Weise abschlachteten, lachte, kicherte, klatschte oder aber großteils schwieg. Es wurden von der Hamas und den Palästinensern 251 Geiseln genommen, viele wurden in „Geiseldeals“ freigelassen – im Gegenzug zum Freilassen von kriminellen und blutbeschmierten palästinensischen Terroristen, die aus israelischen Gefängnissen freikamen – von denen vermutlich nur noch 20 leben.

Der Krieg, den die Hamas am 7.10.23 begann und den Israel einige Wochen später als Abwehrkrieg gegen den Jihad, Islamismus und antizionistischen Palästina-Kult als Abwehrkrieg fortführte, war notwendig und berechtigt. Es wurde aber seit langer Zeit klar, dass ein Krieg gegen eine in der Zivilbevölkerung vernetzte Terrororganisation nicht zu gewinnen ist. Die Angehörigen und Freund*innen der Geiseln, das Hostage Forum, sind seit 2024 in höchster Alarmbereitschaft, weil sie der israelischen Regierung vorwerfen, nicht genug zur Freilassung der Geiseln zu tun.

Die rechtsextreme israelische Regierung unter Benjamin Netanyahu, der selbst eher ein Opportunist war, konservativ, aber nicht rechtextrem wie Ben Gvir oder der selbst ernannte Faschist Smotrich, hat mehrere Geiseldeals offenbar vorsätzlich nicht gemacht, weil das das Ende des Gaza-Krieges bedeutet hätte. Das Ziel ist aber nach der Zerstörung von Gebäuden (50 Prozent aller Gebäude sind vollständig zerstört), auch die mehr als zwei Millionen Palästinenser*innen zu vertreiben oder zur Emigration zu bewegen.

Biller schreibt:

Ja, wenn es um Israel geht, um Benjamin Netanjahu und die strategisch richtige, aber unmenschliche Hungerblockade von Gaza oder die rein defensive Iran-Kampagne der IDF, kennen die meisten Deutschen keinen Spaß. Das Drama, das sie dann aufführen, begleitet von der bigotten Beschwörungs-
formel »Das Völkerrecht! Das Völkerrecht!«, mit der sie niemals Leute wie Sinwar oder Ali Chamenei belegen würden, hat nichts mit einer zivilisierten politischen Auseinandersetzung zu tun.

Richtig. Aber: Nur weil Antisemiten mit dem Wort „Völkerrecht“ herumfuchteln, gerade und fast immer nur, wenn es um Israel und die Juden geht, heißt das nicht, dass es kein Völkerrecht gibt!

Der Springer-Konzern und Andreas Rosenfelder von der Tageszeitung Die Welt stellen sich hinter Biller:

Wer auch nur ein paar Zeilen von Maxim Biller gelesen hat, der weiß, dass dieser tragische Sarkasmus, der die jüdische Literaturtradition von der deutschen mit ihrer auftrumpfenden Thomas-Mann-Ironie unterscheidet, ein Wesensmerkmal seiner Texte ist. Anstatt zu vertuschen und zu verschleiern, spricht der Witz die unerträgliche Realität aus, dass der Kampf gegen den Hamas-Terror im Alltag der Soldaten konkret bedeutet, „auf Araber zu schießen“. Und in der Antwort des Arztes benennt der Witz die noch brutalere Wirklichkeit, dass es für diese Unerträglichkeit keine Therapie gibt. Denn sie betrifft die Existenz jedes Juden in Israel.

Das ist eben Ideologie und faktenfrei. Das Erschießen von nach Nahrung anstehenden Zivilist*innen ist ein Verbrechen – wenn der Haaretz-Bericht so stimmt und es gibt außer Dementi der IDF keinen Grund, ihm nicht zu glauben – und hat mit der „Existenz jedes Juden in Israel“ nichts zu tun – abgesehen von dem ethischen und moralischen Schaden für Juden in Israel, die durch solche IDF-Aktionen entstehen.

Die Berliner Zeitung hingegen schreibt:

Ausführlich hat sich auf Instagram der Autor und Verleger Dinçer Güçyeter zu Billers Text geäußert. Der 2023 für seinen Roman „Unser Deutschlandmärchen“ mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Schriftsteller wendet sich direkt an Maxim Biller: Kollegen öffentlich zu diffamieren gehöre eigentlich nicht zu seinem Geschäftsmodell, schreibt Gücyeter. „Gestern, beim Lesen deiner Kolumne, habe ich mich gefragt, wie ein Autor so über seine Wut stolpern kann. Die ganze Nacht habe ich nach einer Antwort gesucht. Dieser Zynismus, dieses Gemetzel unter dem Schleier des Wortes ist genauso schmerzhaft wie die Meinung von Ahnungslosen, die sich für Nahostexperten halten, weil sie mal eine Shisha von unten gesehen haben.“

Die kapitalistische Weltwirtschaft verstößt tagtäglich seit Jahrzehnten gegen das „Völkerrecht“. Das juckt von den Eliten kaum jemand, das ist klar. Weltweit hungern aktuell ca. 735 Millionen Menschen. Das ist aber kein Grund, auch die mehr als zwei Millionen Palästinenser*innen in Gaza vorsätzlich und perfide hungern zu lasen – und die jüdischen Geiseln somit auch.

Das Institut für Menschenrechte hält fest:

Nach Angaben der Vereinten Nationen hungern weltweit 735 Millionen Menschen. Und das, obwohl jeder Mensch ein Recht auf Nahrung hat. Warum ist das so?

Sarah Luisa Brand: Gleich vorab: Im Jahr 2024 müsste kein Mensch mehr hungern, denn es wird genug Nahrung für alle produziert. Hunger ist also vor allem die Folge ungleichen Zugangs zu Nahrung. Es gibt viele Gründe, warum Menschen nicht genug zu essen haben, beispielsweise Armut, Diskriminierung oder soziale Benachteiligung. Kriege und bewaffnete Konflikte führen dazu, dass Menschen ihr Zuhause und ihr Einkommen verlieren und landwirtschaftliche Flächen, Betriebe oder Infrastruktur zerstört werden.

(…)

Das Menschenrecht auf Nahrung besagt, dass Nahrung für jeden Menschen angemessen, verfügbar, zugänglich und bezahlbar sein muss. Völkerrechtlich verbindlich ist es in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 verankert. 2004 verabschiedete die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in Rom „Freiwillige Leitlinien zur Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des Rechts auf Nahrung im Kontext nationaler Ernährungssicherung“.

In der Berliner Zeitung heißt es weiter zu Maxim Biller, dem großen Strategen ohne Empathie und Ethik:

Die Kolumne, die in ihrer Drastik einen Einblick in das Denken vieler Unterstützer Israels erlaubt, mag sich zwar vor allem an vielen Deutschen und ihren Doppelstandards etwa bei der Kritik an Israels Regierung abarbeiten und mit der Wucht des durchaus nachvollziehbaren Hasses Punkte treffen. Dieser rhetorische Angriff Billers geht aber vor allem auf die Kosten der Palästinenser. Und deshalb kommt nun vehementer Widerspruch.

Das ist die Pointe. Es geht Biller nur um die deutschen Befindlichkeiten, die Schuldabwehr und Schuldumkehr. Dieses Muster gibt es, aber es greift hier nicht, weil man sieht, wie wenig Biller im internationalen Diskurs über den sinnfreien Krieg in Gaza drinsteckt. Er ignoriert offenkundig die von IDF-Soldaten beschriebenen und nicht widerlegten Verbrechen.

Zudem schreibt die Berliner Zeitung in dem zitierten Text:

Auf Instagram hat sich auch der 1987 in Haifa geborene Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus geäußert, der seit 2010 in Berlin lebt und 2023 mit seinem Romandebüt „Birobidschan“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, ein Buch, das auch im Feuilleton der Zeit sehr gut besprochen worden ist. Nicht nur, dass Dotan-Dreyfus sein Zeit-Abonnement aufgrund von Billers Text gekündigt hat und zum Boykott der Zeitung aufruft. Er schreibt:„Das Problem, liebes Zeit-Team, ist nicht ein Text von Maxim Biller. Das Problem ist, dass ihr eine Atmosphäre kreiert habt, in der ein solcher Text entstehen kann.“

Die bekannte Journalistin der Times of Israel, Sarah Tuttle-Singer, eine wortgewaltige wie zarte Zionistin, eine der bekanntesten Stimmen der Times of Israel von Anbeginn, schreibt angesichts des Haaretz-Berichts, von dem sie hofft, dass er nicht stimmt, auf Facebook:

Es tut weh, dies zu schreiben. Aber es muss gesagt werden.

Ich liebe mein Land.

Ich liebe Israel in all seiner unmöglichen, widersprüchlichen Schönheit. Ich liebe den Klang der hebräischen Sprache im Wind und den Jasmin, der in den Ritzen dieses zerbrochenen, heiligen Landes blüht. Ich liebe die Menschen, die hier leben – Menschen, die der Gefahr entgegenlaufen, nicht vor ihr weglaufen.

(…)

Es gibt keine Sicherheit beim Abschlachten.

Es gibt keine Gerechtigkeit, wenn man die Hungernden ins Visier nimmt.

Es gibt keinen Sieg, wenn wir auf dem Weg dorthin unsere Seelen verlieren.

Und ja, wir begraben immer noch unsere Toten vom 7. Oktober. Wir beten immer noch – jeden einzelnen Tag – für unsere Geiseln. Wir sind immer noch voller Angst und Wut. Aber diese Schrecken geben uns nicht das Recht, unsere eigenen zu begehen.

Ich glaube immer noch an unsere Soldaten. Ich glaube immer noch an dieses Land. Aber Glaube ohne Verantwortlichkeit ist blinde Loyalität. Und blinde Loyalität ist gefährlich.

Wenn Haaretz Lügen veröffentlicht hat, dann sollten sie einen hohen Preis für die Verleumdung unserer Soldaten und unseres Landes zahlen.

Aber wenn diese Berichte wahr sind – und ich hoffe von ganzem Herzen, dass sie es nicht sind – dann müssen alle Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Von jedem Soldaten, der das Feuer auf Zivilisten eröffnet, über die gesamte Befehlskette bis hin zum Premierminister selbst.

Denn auch das alles ist Liebe. Kämpferische, fordernde Liebe, die sagt: Ihr müsst es besser machen. Wir müssen es besser machen. Oder all dies bedeutet überhaupt nichts.

Schließlich ist ganz Israel füreinander verantwortlich.

Das ist Zionismus. Das ist eine „kämpferische, fordernde Liebe“ zu Israel und kein zynisches Geschwätz.

Sarah Tuttle-Singer möchte die IDF vor sich selbst retten, Maxim Biller, der Schaukelstuhl-Zionist aus Deutschland mit Laptop, möchte offenkundig eher noch mehr Verbrechen, weil es anders nicht gehen würde.

Richtig: Ohne die Islamfaschisten der Hamas gäbe es diesen Krieg gar nicht. Punkt.

Aber ohne Netanyahu und seine ignorante Fan-Basis wäre es vermutlich gar nicht zum 7.10 gekommen – Warnungen wurden absichtlich ignoriert, unter anderem weil sie von weiblichen IDF-Sicherheitsexpertinnen kamen und die patriarchale Führungsstruktur der IDF das lächerlich machte; es war zu wenig Militär vor Ort und der Grenzzaun war alles nur nicht unüberwindbar –  und zumal dieser Krieg vermutlich längst beendet und die Geiseln endlich befreit.

Die Zerstörungen im Gazastreifen, das Zerstören von Tausenden von Häusern sind militärisch nicht zu begründen, die Rückkehr der Geiseln haben sie nicht gebracht. Das offen ausgesprochene Ziel der israelischen Regierung ist die Vertreibung oder Zusammenpferchung der Palästinenser auf ca. 25 Prozent der Fläche des Gazastreifens und die Wiederbesiedelung mit jüdischen/israelischen Siedlern.

Es gibt also eine rechtsextreme Regierung in Jerusalem, die alles dafür tut, die Zweistaatenlösung – die seit 1947 von den Arabern und Palästinensern abgelehnt wird! – unmöglich zu machen.

Wenn die von Israel bewaffneten islamistischen Gruppen wie die Shabab-Miliz und andere in Gaza für dieses Töten von Zivilist*innen auch mitverantwortlich sein sollten, liegt auch hierbei die Verantwortung bei der Besatzungsmacht, Israel.

Das ist der ethische Grundgedanke des Philosophen Emmanuel Levinas, auf den ich ja die letzten Monate schon hinwies, da er 1982 in Beirut bei dem (christlichen) Massaker an Palästinensern in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila die Besatzungsmacht Israel verantwortlich machte, da sie es hätte verhindern können und müssen:

„Aber es gibt auch eine ethische Grenze dieser politischen Existenz, eine ethisch notwendige“ sagt er am 28. September 1982 in dem Gespräch mit Shlomo Malka und Alain Finkielkraut, wenige Tage nach dem Massaker an einigen Hundert bis zu Tausenden Palästinensern in Sabra und Schatila.

Levinas wendet sich auch gegen den „Messianismus“ und betont die Bedeutung der Verinnerlichung von Gewalt durch den (so überlebensnotwendigen) Sieg im Sechstagekrieg 1967, wovon 1970 auch der Linkszionist Amos Oz in einem Gesprächsband mit israelischen Soldaten berichtet hat („Man schießt und weint“). Von diesem Leiden ist Biller weit entfernt, er schreibt auch nicht „sarkastisch“, wie viele seiner rechten Freund*innen (von express.at bis Nius etc. pp.) meinen, sondern wie gesagt: zynisch. Und Zynismus ist mit dem Bestehenden – hier der Gewalt der IDF in Gaza – einverstanden.

Sarah Tuttle-Singer hofft, dass die Verbrechen, von denen die Haaretz berichtet, so nicht stattgefunden haben. Dass es die über 500 Toten jedoch gibt, ist unbestritten, fast täglich berichten ja die Medien darüber wie die Times of Israel. Doch Biller stellt nicht mal in Abrede, dass die Verbrechen passieren, sondern behauptet, im Witz verkleidet, dass sie notwendig seien wie das Aushungern von über zwei Millionen Menschen.

Und das ist nicht mehr eine freie Meinungsäußerung, sondern das ist Affirmation und Agitation und hat mit einer Kritik am deutschen Antisemitismus rein gar nichts zu tun.

Natürlich hat Biller mit seiner Attacke auf Markus Lanz grundsätzlich Recht:

Neulich zum Beispiel, bei Lanz, der politischen Talkshow für politische Anfänger, das war noch kurz vor dem Israel-Iran-Krieg. Gerade ging es um die EU, Flüchtlinge und den opaken Minister Dobrindt, als sich im entspannt fragenden Gastgeber plötzlich alles zusammenzog. Denn jetzt war der Nahe Osten dran! Er ging in seinem Moderatorenstuhl in eine raubtierhafte Angriffshocke, er zischte und fauchte, statt zu sprechen, und versuchte immer wieder, von seinen Gästen die Aussage zu erpressen, dass Israel im Gazastreifen der Al-Kassam-Brigaden »Kriegsverbrechen« begehe. Und während der bayerische Ministerpräsident Markus Söder ihm erklärte, wie selbstkritisch und demokratisch die israelische Gesellschaft sei und dass er dieses Land nie aufgeben würde, rollte der nervlich stark angegriffene Moderator mit den Augen wie Elon Musk auf Ketamin.

Nur weil ein deutscher Dampfplauderer, der von allem und nichts wirklich eine Ahnung hat, von möglichen Kriegsverbrechen in Gaza redet, heißt das doch nicht, dass es die nicht geben kann! Wo lebt denn Maxim Biller? In Berlin, alles klar.

2019 schrieb ich:

Am Dienstagabend, 5. März 2019, hatte sich der gebührenfinanzierte Dampfplauderer vom Dienst, Markus Lanz, neben Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der ZEIT, den ehemaligen Bundesminister und das SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi zum Plausch in die nach ihm benannte Sendung im ZDF geladen. Was der Gast dabei von sich gab – und der Moderator durchgehen ließ, ohne nachzufragen, ließ tief blicken und indiziert, wie die politische Kultur in diesem neuen Deutschland funktioniert, auch ganz ohne AfD.

Für einen ganz normalen Deutschen ist Wissenschaft unnötig. Er oder sie weiß es aus eigener Anschauung ohnehin besser. Jeder gute Deutsche hat einen „gesunden Menschenverstand“, was Kritiker als ungesund oder krank dastehen lässt. Dohnanyi machte in der Sendung den Austritt der SPD aus der Reichsregierung 1930 für den Aufstieg der NSDAP verantwortlich. Widerstand habe es massenhaft in Deutschland gegeben, nach 1933, fast jeder und jede hatte einen Juden, der versteckt oder versorgt wurde, das war der Tenor des SPDlers. So klang dieser mit vollem Kalkül vorgetragene Schrei gegen die heutige Schonzeit für Juden aus dem Munde eines SPD-Vordenkers. Es müsse Schluss sein mit der Erinnerung an die „Judenvernichtung“, die Zukunft rufe, so sprach er.

Da wird der zapplige, nie den Status des pubertierenden Strebers loswerdende Lanz, der sich quasi freut wie Oskar, der seinen ehemaligen verknöcherten autoritären Schulleiter wiedertrifft und der alleine für das Wackeln mit seinen aalglatten Schuhen einen Werbevertrag einer großen Schuhfirma erhalten sollte, ganz hellhörig. Er habe jüngst ein Interview mit dem Historiker Götz Aly gelesen, der darauf abheben würde, dass „Hitler den Sozialstaat aufgebaut habe“. Hitler und Sozialstaat, da werden Deutsche ganz wuschig, das ist spannend und irgendwie doch fast verboten. Sind eventuell gar Juden im Publikum? Oder vor den TV-Geräten? Wurden die Juden von einem ganz modernen Sozialstaat ermordet? War es gar nicht böse gemeint?

Wenn Maxim Biller Lanz so oder ähnlich kritisiert hätte, warum nicht? Hat er aber nicht, sondern er affirmiert eine nicht mehr zu rechtfertigende Kriegsführung, die den Palästinensern und Israel extrem schadet, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die einen sind tot, die anderen psychisch traumatisiert und diplomatisch isoliert.

Und nochmal, an die ganzen Biller-Fans, die jetzt heulen: Es ist klar, ohne die Hamas gäbe es diesen Krieg nicht.

Hat sich Biller mit den Berichten aus Israel mit dem offenkundig willkürlichen Feuern auf Zivilisten, die verzweifelt Nahrung von den LKWs erwarten, überhaupt näher beschäftigt?

Ist es ihm vollkommen egal, was real auf der Welt passiert, solange es nicht in sein Weltbild passt? Offenkundig hat er sich erkundigt, er weiß, dass die IDF auf Araber schießt – und er behauptet auf unerträgliche, zynische Weise, dass es halt nicht anders gehen würde.

Amos Oz dreht sich im Grab um.

Es muss um ein „neues Sprechen“ gehen, um ein Reflektieren innerhalb der völlig eingeigelten und fanatisierten Pro-Palästina- und Pro-Israel-Camps – so fordert es die pro-israelische, gegen Antisemitismus anschreibende Volontärin bei der Zeit, Anastasia Tikhomirova, vor einigen Wochen („Raus aus dem Freund-Feind-Schema„). Das wäre mal eine Lektüre gewesen für Maxim Biller.

Aber hätte Die Zeit wenigstens ein paar linkszionistische Redakteur*innen, wäre diese Kolumne von Maxim Biller, so wie sie da gedruckt steht, nicht erschienen.

 

 

 

 

 

War der Elektrotechniker, Sozialist und UN-Generalsekretär Antonio Guterres schon immer ein Antisemit?

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Der portugiesische UN-Generalsekretär Antonio Guterres sagte gestern, dass das größte Massaker an Juden seit Babi Yar und dem Holocaust durch muslimische Terroristen der Hamas „nicht in einem Vakuum“ passiert sei. Es habe also eine Vorgeschichte („56 Jahre Besatzung“) oder sei irgendwie „eingebettet“. Nicht etwa eingebettet in die lange Geschichte des muslimischen Antisemitismus, der Muslimbruderschaft, der islamo-faschistischen Mullah-Herrschaft im Iran, nein: die Vorgeschichte sei die Politik Israels!

Als ob die islamistische Ideologie und der Wille, Juden zu töten, nicht auch dann Kern der Hamas und des Jihad wäre, wenn es einen Staat Palästina geben würde. Das zeigt ja die antisemitische Hetze des Iran, der überhaupt nicht besetzt ist, aber die gleiche antisemitische Ideologie vertritt wie die Hamas und die Hamas mit Waffen, Geld und Diplomatie unterstützt.

Das was Guteres, dessen Gelalle, er würde die Verbrechen der Hamas schlimm finden, keiner ernst nehmen kann, der lesen und hören kann, ist eine klassische antisemitische Täter-Opfer Umkehr. Es verwundert nicht, aber macht es nicht weniger ekelhaft, dass dies aus dem Mund des UN-Generalsekretärs kommt.

All die Entschuldigungen und das leichte Zurückrudern, das dieser extrem abstoßende UN-Funktionär nun veranstalten wird, all das Betonen, wie schlecht er geschlafen haben, dass er schon so viele Horrorfilme gesehen haben, da habe ihn das Köpfen von jüdischen Babies, das Vergewaltigen von Frauen, die danach lebendig verbrannt wurden, das In-Eine-Grube-werfen von jungen Musikfans und sie dann mit Gewehren zu massakrieren – der Babi Yar Moment Israels -, das In-den-Kopf-Schießen von alten Frauen einfach nicht geschockt. Er ist einfach abgebrüht oder aber, viel wahrscheinlicher, ein ganz normaler Antisemit, der Schadenfreude empfand und mit der Hamas klammheimlich oder auch weniger heimlich sympathisiert.

Denn sonst hätte Guterres in seiner abstoßenden Rede nicht sofort von den bösen Israelis geredet, die also selbst Schuld hätten an dem Massaker. Wir kennen diese Art Täter-Opfer Umkehr von den Nazis und den Altnazis und Neonazis, aber auch arrivierten Schriftstellern, die immer, wenn es um die Shoah und die deutsche Schuld ging, von „Versailles“ faselten (Martin Walser).

Leider ist Guterres noch bis 2026 UN-Generalsekretär. Er spricht aber nur aus, was Milliarden Menschen, vor allem im Süden (Portugal zählt wie Spanien oder Irland in dieser Frage zum Globalen Süden) denken: Judenhass ist berechtigt, weil er gar kein Hass sei, sondern nur eine Reaktion auf das Verhalten der Juden. Da lachen Hitler und die Einsatzgruppen, denn damit kann man noch rückblickend auch den Holocaust rechtfertigen.

So viel Antisemitismus gab es schon lange nicht mehr, auf den Straßen Berlins, wo fanatische Muslime am Brandenburger Tor beten und damit ihren Dank für das Abschlachten der Juden durch die Hamas zum Ausdruck bringen wollen, auf Demonstrationen wo „Free Palestine“ geschrien wird und die Zerstörung Israels und das Vernichten der israelischen Juden gemeint ist, oder im Schweigen nahezu der gesamten kulturellen Elite angesichts der Verbrechen der Islamisten und Muslime vom 07. Oktober 2023.

Der israelische Politiker und das Mitglied im Kriegskabinett Benny Ganz nennt Guterres treffend einen „Terror-Apologeten“.

Wer sich seriös und kritisch mit den Vereinten Nationen befassen möchte, der oder dem sei die NGO UN Watch nachdrücklich empfohlen.

So alte Männer wie Guterres (Jg. 1949) jedoch haben in der Politik ohnehin überhaupt nichts zu suchen (wie auch Trump oder Biden dort nichts zu suchen haben), er ist ein Rentner und sollte zurücktreten und einfach mal seine Fresse halten. Andererseits muss man zugestehen, dass er ein ehrliches Sprachrohr ist für die Milliarden von Antisemiten wie auch jene deutschen Fans (wie Sahra Wagenknecht und ihre Baggage) von „Waffenstillstand“ oder „Zweistaatenlösung“, die damit doch irgendwie sagen wollen:

Hey Hamas, gut gemacht, das hätten nicht mal wir uns getraut – und für Eure Aktion am 07. Oktober 2023 kriegt ihr jetzt endlich euren eigenen Staat. Den habt ihr euch redlich verdient!

Ich halte es lieber mit dem Caracal Batallion der IDF: dieses weibliche Bataillon hat ca. 100 Terroristen der Hamas unschädlich gemacht, bravo!

Von Walser (1998) bis Özdemir (2018): Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Uni Tübingen, die „Rede des Jahres“, deutscher Antisemitismus und Nationalismus

Von Dr. Clemens Heni, 13. Dezember 2018

Der Autor war vom Sommersemester 1991 bis einschließlich dem Sommersemester 1996 Student an der Uni Tübingen (Philosophie, Geschichte, Empirische Kulturwissensschaft (EKW) und Politikwissenschaft) und wohnte u.a. im Annette Kade Wohnheim (sehr günstig auf 8,95 qm, plus 1qm Vorraum mit Waschbecken und einem weiteren Bücherzimmer mit 1qm), schräg gegenüber des Instituts für Politikwissenschaft, wo der alte Nazi (SS-Mann) Theodor Eschenburg noch ein Arbeitszimmer hatte. 1996 während der Goldhagen-Debatte meinte eine Kommilitonin, die „rote Uni Bremen“ sei doch wohl besser für ihn und für die Uni Tübingen sei das auch besser. Und so kam es 😉

 

Im Dezember 2018 gab eine Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität Tübingen bekannt, dass die von ihr verliehene Auszeichnung für die „Rede des Jahres“ 2018 an den Politiker Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) geht.[i] Seine Rede im Bundestag am 22. Februar 2018 habe sich mit „ciceronianischer Wucht“ gegen die Alternative für Deutschland (AfD) und deren Agitation im Bundestag gewandt.

Doch Özdemir hat in dieser Rede gerade nicht nur die Neuen Rechten oder die neuen Nazis im Bundestag attackiert, sondern vor allem selbst massiv nationalistische und verschwörungsmythische Topoi gesetzt. Das hatte ich als Teil eines längeren Textes am 7. März 2018 analysiert, unten gebe ich jenen Abschnitt des Textes wieder, der sich mit Özdemir befasst.

Übrigens wird diese anmaßende Auszeichnung einer „Rede des Jahres“ seit 20 Jahren verliehen. Erster Preisträger war Martin Walser mit seiner berüchtigten Paulskirchenrede, die als eine der antisemitischsten Reden in die Geschichte der Bundesrepublik einging.[ii]

Die Jury (Prof. Dr. Gert Ueding) sagte damals über Walsers Rede:

Zur „Rede des Jahres 1998“ hat das Institut für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen Martin Walsers Frankfurter Friedenspreisrede gewählt, weil sie in der Tradition der großen humanistischen Beredsamkeit in Deutschland für die ideologisch verfestigten Meinungsschranken unserer Mediengesellschaft die Augen öffnet, sich gegen das organisierte Zerrbild von Gewissen, Moral, Schuldbewußtsein wehrt, das in Grausamkeit gegen die Opfer umschlägt, und schließlich für Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft plädiert, ohne die Kraft zur Trauer zu schwächen.

Martin Walser hat mit selbstkritischen und ironischen Untertönen den Meinungsbetrieb in seiner manchmal gutgläubigen, doch meist zynischen Doppelbödigkeit aufgedeckt und als Instrument der ideologischen Macht­ausübung, als profitables Mediengeschäft und intellektuelle Inszenierung erkennbar gemacht. Die maßlose und hämische Kritik an dieser in rhetorischem Ethos, schlüssiger Argumentation und leidenschaftlichem Engagement für eine menschenwürdige Zukunft vorbildlichen Rede bestätigt deren Thesen so eindrucksvoll wie bedrückend.“

 

Entgegen Uedings und der Uni Tübingens hoher Meinung von Martin Walser gab es auch seriöse und kritische, gegen den Antisemitismus gerichtete Analysen wie jene in der Doktorarbeit des Politologen Lars Rensmann:

„Auschwitz gerät von der Chiffre für das unvorstellbare Verbrechen zur bloßen intellektuellen ‚Vorhaltung‘ gegenüber den Deutschen: ‚Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird.‘ Nicht der Holocaust, die Grausamkeit gegenüber Juden, sondern, im Gegenteil, ein an den Deutschen verübter ‚grausame[r] Erinnerungsdienst‘ der ‚Intellektuellen‘, die den Terror erinnern, wird als Gewalt projiziert; die Erinnerung an den Schrecken an sich wird von Walser abgewehrt.“[iii]

Rensmann resümiert:

„Nach den ‚Walser-Debatten‘ lässt sich jedoch begründet eine zunehmend erodierende Grenzziehung im politischen Diskurs gegenüber erinnerungsabwehrenden Formen des Antisemitismus als ‚legitime Meinungsäußerung‘ befürchten. Seit der Walser-Debatte glauben die antisemitischen Briefeschreiber in der Bundesrepublik kaum mehr anonym bleiben zu müssen, weil sie, nicht ganz zu unrecht, ihre Ansichten und Drohungen wieder für salonfähig oder zumindest für legitim und akzeptabel halten. Das antisemitische Judenbild, das Walser wie auch [Rudolf] Augstein und andere in der politischen Öffentlichkeit rehabilitieren und am Leben erhalten, stößt gesellschaftlich zumindest kaum auf energische Ablehnung. Die Diskussion bezeugt insofern bisher einen ersten Höhepunkt affektiver, gegen Juden gerichteter öffentlicher Tabubrüche in der politischen Kultur der ‚Berliner Republik‘, dessen Folgen und Effekte nachwirken und in den nachkommenden Debatten Widerhall finden.“[iv]

Wenn Özdemir seinen nationalistischen Eifer vom Februar 2018 wieder gutmachen möchte, könnte er nun diese Auszeichnung ablehnen. Das wird Özdemir aber ganz sicher nicht tun, dafür ist er viel zu stolz auf dieses Land.

Cem Özdemir und die „gute“ Heimat, 2018

Es gibt kaum einen besseren Indikator für die politische Kultur in diesem Land, wenige Monate nach dem Einzug der rechtsextremen AfD in den Deutschen Bundestag, als die Rede des Grünen Cem Özdemir in jenem Parlament am 22. Februar 2018 und die überschwängliche Begeisterung derer, die sich im Anti-AfD-Lager befinden. Aufhänger für die neuen Nazis im Bundestag waren vorgeblich „antideutsche“ Texte des Journalisten Deniz Yücel, der dank des Einsatzes der Bundesregierung aus dem Gefängnis in der Türkei entlassen wurde. Zu Recht attackierte Özdemir in seiner Wutrede am 22. Februar 2018[v] die AfD als „Rassisten“, attackierte lautstark die rassistische Hetze gegen ihn, den die AfD am liebsten „abschieben“ wolle, während er aber natürlich ein Deutscher aus „Bad Urach“ ist. Das ist alles sehr gut und treffend. Özdemir sagte aber auch:

„Wie kann jemand, der Deutschland, der unsere gemeinsame Heimat so verachtet, wie Sie es tun, darüber bestimmen, wer Deutscher ist und wer nicht Deutscher ist? (…) Sie verachten alles, wofür dieses Land in der ganzen Welt geachtet und respektiert wird. Dazu gehört beispielsweise unsere Erinnerungskultur, auf die ich als Bürger dieses Landes stolz bin. (…) Dazu gehört – das muss ich schon einmal sagen; da fühle ich mich auch als Fußballfan persönlich angesprochen – unsere großartige Nationalmannschaft. Wenn Sie ehrlich sind: Sie drücken doch den Russen die Daumen und nicht unserer deutschen Nationalmannschaft. Geben Sie es doch zu!“

Was macht Özdemir mit jenen Antifas oder Antideutschen, die „unsere Heimat“ tatsächlich verachten? Sind Antifas oder Antideutsche keine Menschen? Der Logik zufolge verabscheut Özdemir Kritik an den deutschen Zuständen so sehr, wie das die AfD verabscheut und er kategorisiert völlig realitätsblind die AfD in das Lager der Heimatfeinde.

Gerade den aggressivsten Nationalisten, die jemals in solch einer Fraktionsstärke im Bundestag gesessen haben, vorzuwerfen, nicht deutsch-national genug zu sein, ist völliger Blödsinn. Es ist eine absurde Idee und wird exakt auf jene zurückschlagen, mit schwarzrotgoldenem Fanatismus, wie wir ihn namentlich und verschärft seit dem ach-so-zarten „Sommermärchen“ 2006 alle zwei Jahre erleben, die eben tatsächlich nicht für dieses Land mitfiebern, sondern für seine sportlichen Konkurrenten zum Beispiel, oder denen das schnuppe ist. Und das Argument, quasi „Volksverräter“ zu sein, kann bei Nazis nur dazu führen, dass bei nächster Gelegenheit die Anti-AfDler mal wieder als solche bezeichnet werden. Heimat ist auch für Neonazis von allerhöchster Bedeutung.[vi]

Selbstredend hat Özdemir recht, wenn er sich gegen die Hetze gegen das Holocaustmahnmal aus dem Munde von Björn Höcke wendet, was aber wiederum gar nichts darüber aussagt, was für eine stolzdeutsche Ideologie in diesem Mahnmal, zu dem man „gerne gehen soll“ (Gerhard Schröder), und wieviel Degussa-Material darin steckt.

Warum Stolz auf die deutsche Erinnerungskultur? Eine „Kultur“, die es gar nicht ohne die sechs Millionen von Deutschen ermordeten Juden geben könnte?

Stolz zudem auf die Verdrängung der deutschen Verbrechen bis in die 1980er Jahre hinein und dann das unerträgliche Eingemeinden der jüdischen Opfer mit SS-Tätern in Bitburg durch Bundeskanzler Helmut Kohl und später die Trivialisierung des Holocaust durch Typen wie den späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck, der den Kommunismus wie den Nationalsozialismus als ähnlich schrecklich empfindet und Beiträge in den Holocaust verharmlosenden Büchern wie „Roter Holocaust“ (Herausgeber war der Historiker Horst Möller, 1998) publizierte und 2008 die aus dem gleichen totalitarismustheoretischen und Auschwitz nivellierenden Eichenholz geschnitzte Prager Deklaration unterschrieb? Stolz auf ein Land, das derzeit Phänomene erlebt wie Dorfbevölkerungen in Rheinland-Pfalz oder in Niedersachsen, die mit Hitlerglocken oder Nazi-Glocken in ihren Kirchen kein Problem haben, ja stolz auf die lange Tradition sind?

Das sind nur einige wenige Elemente der Kritik, warum Özdemir einen großen Fehler begeht, wenn er ernsthaft meint, Nazis rechts überholen zu können mit noch mehr Stolz auf Deutschland und namentlich auf dessen „So geh’n die Deutschen“[vii] -Fußballnationalmannschaft (2014). Das „Sommermärchen“ 2006 war absolut grundlegend für den schwarzrotgoldenen Wahnsinn von Pegida im Oktober 2014 bis zum Einzug der AfD in den Bundestag und bis heute.[viii] Dabei hatte es so wundervolle Momente wie das Vorrundenaus der Deutschen bei der WM 2018 zuvor bei Fußballweltmeisterschaften eher selten gegeben.

Das Bittere, das so gut wie niemandem auffällt, an Özdemirs Vorwurf an die Nazis, doch nicht deutsch genug zu sein, hat wiederum Pohrt schon am Beispiel eines Textes vom 14.5.1982 in der taz untersucht, dessen Autor Hilmar Zschach die Nazivergangenheit des schleswig-holsteinischen Landtagspräsidenten Helmut Lembke erwähnt, aber das als untypisch für die feschen Schleswig-Holsteiner abtut. Pohrt kommentierte:

„Die gemeinsame völkisch-nationalistische Basis bringt Linke und Rechte dazu, einander undeutsche Umtriebe vorzuwerfen. So irrational, wie die Kontroverse dann geworden ist, so mörderisch sind auch ihre potentiellen Konsequenzen. Es geht eigentlich darum, den Volkskörper von volksfremden Elementen zu säubern, damit endlich das andere, das wahre Deutschland erscheine. Unter dieser Voraussetzung ist es gleichgültig, ob die ‚Antifaschisten‘ oder die Faschisten gewinnen, denn die Verlierer werden allemal Leute sein, die keine Lust haben, sich Deutsche zu nennen.“[ix]

 

[i] „Mit seinem Debattenbeitrag hat Özdemir gezeigt, wie wirksam und kraftvoll eine Parlamentsrede sein kann, wenn ein Redner mit Überzeugung und Leidenschaft antritt – ein herausragendes Beispiel dafür, wie man den Populisten im Parlament die Stirn bieten kann. Jury: Simon Drescher, Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Viktorija Romascenko, Oliver Schaub, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier. Im Jahr 2018 war mit Oliver Schaub erstmals auch ein von den Studierenden bestimmtes studentisches Mitglied Teil der Jury“, http://www.rhetorik.uni-tuebingen.de/portfolio/rede-des-jahres/.

[ii] Joachim Rohloff (1999): Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik, Hamburg: KVV Konkret (Konkret Texte 21); Lars Rensmann (2004): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 356–414;

[iii] Rensmann 2004, S. 364.

[iv] Ebd., S. 414.

[v] http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19014.pdf.

[vi] Zur Kritik siehe z.B. Lucius Teidelbaum (2018): Kritische Heimatkunde, 05.03.2018, http://emafrie.de/kritische-heimatkunde/.

[vii] https://www.youtube.com/watch?v=6lcaRA4sr4o.

[viii] Clemens Heni (2017a): Sommermärchen bereitete der AfD den Boden, Frankfurter Rundschau, 16./17. Dezember 2017, online: http://www.fr.de/kultur/antisemitismus-sommermaerchen-bereitete-der-afd-den-boden-a-1409276.

[ix] Wolfgang Pohrt (1982): Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation. Pamphlete und Essays, Berlin: Rotbuch Verlag, 127 f., Fußnote 4.

©ClemensHeni

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