The Berlin International Center for the Study of Antisemitism

Schlagwort: Rafah

Israelische Politiker und Jurist*innen fordern: Für ein sofortiges Ende des Gazakrieges, gegen die völkerrechtswidrige „Humanitäre Stadt“ im Gazastreifen („Auffanglager“)

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Es reicht.

Wir können nicht länger unsere Augen verschließen und die Realität ignorieren.

Der in dieser Woche von Nir Hasson und Nurit Yohanan veröffentlichte Bericht über eine ganze Familie, die bei der Bombardierung eines Gebäudes in Gaza getötet wurde, während Rettungskräfte stundenlang daran gehindert wurden, den Ort des Geschehens zu erreichen, wird keine Seele zur Ruhe kommen lassen. Das Gleiche gilt für die Berichte über weitere 20 Menschen, die in einem der von der Gaza Humanitarian Foundation betriebenen Lebensmittelverteilungszentren getötet wurden.

Wir dürfen unsere Augen nicht verschließen. Wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken.
Wir dürfen nicht gleichgültig bleiben gegenüber dem Verlust unschuldiger Menschenleben in einem Krieg, der längst hätte beendet sein müssen.

Die Operation „Schwerter aus Eisen“ hat sich zu einem Krieg der Täuschung entwickelt.
Die Fortsetzung des Krieges fordert einen unmoralischen und ungerechtfertigten Preis – von unseren Brüdern und Schwestern, die als Geiseln gehalten werden, von unseren Söhnen und Töchtern, die im Militär dienen, und von unschuldigen palästinensischen Zivilisten.

Der Krieg muss beendet werden. Bis dahin muss die IDF ihr Verhalten bei Angriffen in dicht besiedelten Gebieten ändern.

Die israelischen Medien müssen über die Geschehnisse in Gaza berichten.
Die israelische Öffentlichkeit muss auf die Straße gehen, um ein Ende des Krieges zu fordern. Und ja, auch meine Partner in der Opposition und ich müssen viel deutlicher und nachdrücklicher ein Ende des Krieges fordern.

Es reicht.

Wir verlieren unsere Werte.
Wir verlieren unsere Widerstandsfähigkeit.
Wir verlieren unseren Weg.“ (Alle Übersetzungen aus dem Englischen in diesem Text von CH)

Das ist ein Statement vom 17. Juli 2025 des Knessetabgeordneten Gilad Kariv von der Partei Die Demokraten. Er plädiert mit großer Vehemenz für ein Ende des Krieges in Gaza.

Ein offener Brief von israelischen Juristinnen und Juristen, Richterinnen und Richtern fordert jetzt einen sofortigen Stopp der geplanten „Humanitären Stadt“ im Gazastreifen, die auf den Trümmern der Stadt Rafah von Israel gebaut werden soll und in der anfangs 600.000 Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen hineingezwungen werden sollen – nach einer Sicherheitskontrolle, dass sie keine Hamas-Leute sind und ohne die Option die Stadt wieder verlassen zu können. Das Ziel ist die Emigration der Palästinenser*innen und eine teilweise Wiederbesiedelung des Gazastreifens mit jüdischen Siedler*innen.

Das ist kriminell. Das ist illegal. Das verstößt gegen das Völkerrecht.

Damit verließe Israel nochmals den Kreis der zivilisierten Staaten, den es mit der aktuellen Kriegsführung ohnehin schon seit spätestens 2024 verlassen hat, da gezielter Hunger eine völkerrechtswidrige Waffe ist. Wer weiß, was für Folgen Hunger hat – auch für die Geiseln – sieht, wie mörderisch und selbstmörderisch die aktuelle IDF-Strategie ist. Es wird nicht nur zu einer, sondern gleich mehreren Generationen von Jihadisten geradezu erzogen, da braucht es keine Hamas, um so den Hass auf Israel zu schüren.

Diese Kriegsführung hat nichts mit Zionismus zu tun. Sie schadet den Geiseln. Sie mordet unentwegt Palästinenser*innen und greift auch – natürlich „zufällig“ und „nicht absichtlich“ – die fast einzige Kirche im Gazastreifen an, wie jetzt geschehen.

Die 16 oppositionellen Jurist*innen in Israel schreiben am 10. Juli 2025:

In Anbetracht der beschriebenen Rechtswidrigkeit stellt jede Anweisung, die Errichtung einer
„humanitären Stadt“ in Gaza vorzubereiten oder voranzutreiben, einen offenkundig rechtswidrigen Befehl dar, der nicht befolgt werden darf.
Die Ausführung dieses Plans könnte sowohl politische Personen als auch IDF-Offiziere und -Soldaten vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und in anderen Gerichtsbarkeiten erheblichen
rechtlichen Risiken aussetzen. Im Gegensatz zu Staatsoberhäuptern, die unter bestimmten Umständen Immunität genießen, genießen Politiker und Militärangehörige keine Immunität, und für die oben beschriebenen Verbrechen gilt keine Verjährungsfrist.
Jeder, der diesen Plan plant, genehmigt oder ausführt, kann persönlich für schwere internationale Verbrechen verantwortlich gemacht werden. Wir sind der Ansicht, dass aufgrund der offensichtlichen Rechtswidrigkeit die Einrede des höheren Befehls nicht möglich ist, schon gar nicht in internationalen oder ausländischen Foren. Anführer und Befehlshaber, die die IDF-Kräfte anweisen, diesen Plan auszuführen, befehlen ihnen effektiv, Handlungen auszuführen, die eindeutig rechtswidrig sind, und setzen sich damit weltweit der Strafverfolgung aus.
Wir fordern daher alle zuständigen Behörden dringend auf, sich öffentlich von diesem Plan loszusagen, ihn zu desavouieren, und sicherzustellen, dass er nicht umgesetzt wird.

Das ist ein außerordentlich wichtiger offener Brief.

Er wurde auch von zionistischen Juristen unterschrieben, die zuvor Israel gerade noch verteidigt hatten gegen den Vorwurf, in Gaza einen „Genozid“ zu verüben, die Times of Israel berichtet:

Das Schreiben wurde unter anderem von Eyal Benvenisti von der Universität Cambridge unterzeichnet, der einer der Experten war, die Israel in dem von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof angestrengten Völkermordverfahren verteidigten.

Weitere prominente Unterzeichner waren Yuval Shany von der juristischen Fakultät der Hebräischen Universität, der Schriftsätze zur Verteidigung Israels vor dem ICC eingereicht hat, sowie David Kretzmer, Eliav Lieblich, Tamar Megiddo und andere.

Der Jewish Forward und sein Kolumnist Dan Perry aus den USA klagen Benjamin Netanyahu persönlich für den Zusammenbruch des Zionismus an („The scourge of Netanyahu’s self-interest has brought Zionism to its breaking point„) und bezeichnen ihn als den „zerstörerischsten Führer in der Geschichte Israels“ („I first met Netanyahu in 1988. Here’s how he became the most destructive leader in Israel’s history.„)

Die New York Times wiederum hatte berichtet, dass es Netanyahu war, der spätestens im April 2024 einen umfassenden Geisel-Deal, der die restlichen jüdischen und weitere Geiseln der Hamas befreit hätte, nicht unterschrieb, weil seine faschistischen Regierungspartner wie Bezalel Smotrich ihr Veto einlegten und Netanyahu damit keine Mehrheit mehr im Parlament gehabt hätte und sich schutzloser seinen Gerichtsverfahren gegenüber gesehen hätte („How Netanyahu Prolonged the War in Gaza to Stay in Power„).

Zugleich haben jetzt die beiden faschistischen, rechtsextremen israelischen Politiker Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir Einreiseverbot nach Slowenien, einem EU-Land.

Wer kritisch zu Israel berichtet kann im Zweifelsfall seinen Laptop am Flughafen von der Fluggesellschaft bzw. dem „Sicherheitspersonal“ gestohlen und Tage später kaputt zurück bekommen, wie die taz von einer Kollegin berichtet. Meinungsfreiheit? Freiheit der Presse? Persönlichkeitsrechte? Das soll eine Demokratie sein? Ernsthaft?

Gleichzeitig gibt es nonstop antisemitische Demonstrationen, es werden Pro-Hamas Aufkleber geklebt und bei Antifa-Demos gegen die AfD wie in Heidelberg, werden dann wie selbstverständlich Antifafahnen und Palästina-Fahnen geschwenkt (wie am 18. Juli 2025 in Stadtteil Emmertsgrund). Wären diese Leute für Palästina und für Israel, würden sie auch eine Israelfahne schwenken.

Wieder andere fordern eine Art Konförderation zwischen zwei Staaten – Israel und Palästina – wie die Initiative Two States One Homeland oder A Land for All. Gleichwohl scheint diese Initiative das „Rückkehrrecht“ für alle Palästinenser*innen zu tolerieren (was eine zentrale Forderung der antisemitischen BDS-Bewegung ist), was auch jene Millionen Nachfahren von damals tatsächlich Vertreibenen – von denen nur noch wenige Zehntausend heute leben – bedeutete, was den Staat Palästina extrem vergrößern könnte, da ca. 5 Millionen palästinensische „Flüchtlinge“, die gar keine sind und alle lange nach 1948 in anderen arabischen Ländern oder in Europa, Amerika, Asien etc. geboren wurden, dorthin ziehen könnten.

Wer einen Krieg beginnt, so wie ihn die Araber gegen das von Holocaustüberlebenden, Zionist*innen und in Israel geborenen Juden gegründete Israel 1947/48 anfingen, und ihn verliert – hat auch völkerrechtlich verloren.

Zionismus heißt zwar gleiche Rechte für alle in Israel lebenden Menschen, aber es heißt auch eine sehr deutliche jüdische Mehrheit im Land, seit 1948 bis heute sind ca. 75 Prozent der Bevölkerung in Israel Juden. Das ist ein Zeichen, wie vielfältig dieser Staat ist, arabische Staaten sind extrem homogen und haben nach 1948 ebenfalls ca. 700.000 Juden vertrieben, von Marokko bis Irak. Auch religiös sind arabische Staaten eine nahezu komplette Einöde, es gibt nur den Islam.

Die antizionistische Szene, die als „pro-palästinensisch“ immer falsch tituliert wird, ist hoffnungslos verloren, sie kämpft nicht für ein freies Palästina, sondern verharmlost oder feiert den Islamismus und die Hamas und selbst die anti-Hamas Fraktion ist häufig antisemitisch (im Gegensatz zu Hamza Howidy jedoch!), weil sie den Zionismus und Israel ablehnt.

Die anti-antisemitische Szene ist häufig blind für den Extremismus in Israel, nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern seit Jahrzehnten. Sie hätte aber theoretisch die Möglichkeit, innezuhalten, und sich zu ändern. Aber auch hier sind seit dem 7. Oktober noch stärkere Tendenzen des Sich-Einigelns erkennbar, Abweichler*innen werden diffamiert und Selbstkritik ist für viele ein Fremdwort.

Solche kritischen jüdisch-israelischen Jurist*innen gibt hierzulande nicht in der sogenannten Pro-Israel Szene – und wenn es sie gibt, sind die Protagonist*innen meist zu feige, sich zu zeigen und unterscheiden zwischen privaten Äußerungen („Bibi ist ein elender Drecksack“, das kann ich aber öffentlich niemals sagen) und öffentlichen Auftritten.

Dazu kommen die rechtsextremen und konservativen ‚Freunde‘ und ‚Freundinnen‘ Israels, die zum Beispiel keinerlei Problem mit Treitschke- oder Felix-Wankel-Straßen in Deutschland haben, die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf auch auf gar keinen Fall als Verfassungsrichterin in Karlsruhe sehen wollen oder sich in Fragen des Natalismus- und Kinderfetisch und der Frauenverachtung wie Abtreibungsgegnerschaft mit den Ultraorthodoxen in Israel treffen, die im Schnitt 7 Kinder haben – so wie die Präsidentin der EU-Kommission -, was Israel ohnehin in wenigen Jahrzehnten an den Rand des nicht nur geistigen Zusammenbruchs führen wird, wie der Jewish Forward befürchtet:

Der nationale Selbstmordpakt der Haredi: Netanjahu ist inzwischen ganz auf einer Linie mit den bereits erwähnten Haredi-Parteien, die sich in einem massiven Konflikt mit dem Rest der Gesellschaft befinden. Die Haredi-Gemeinschaft, die den Militärdienst überwiegend verweigert und eine niedrige Erwerbsbeteiligung aufweist, wächst explosionsartig und hat im Durchschnitt fast sieben Kinder pro Familie. Sie machen inzwischen ein Sechstel der Bevölkerung aus und verdoppeln ihren Anteil in jeder Generation. Sie weigern sich, ihre Jugend säkulare Kernfächer studieren zu lassen, die sie in einer modernen Wirtschaft beschäftigungsfähig machen würden, sind von der Sozialhilfe abhängig und bestehen auf einem langjährigen Seminarstudium auf Kosten der Steuerzahler. Netanjahu, der ohne ihre politische Unterstützung keine Mehrheit hat, ist ihr wichtigster Ermöglicher geworden. Das Ergebnis ist eine demografische Zeitbombe. Wenn sich die Dynamik nicht ändert, wird es in Zukunft eine Mehrheit geben, die die Werte des modernen Israel ablehnt.

Worum es also geht? Easy:

Für Israel, gegen Benjamin Netanyahu.

Gegen antizionistischen Antisemitismus, aber auch gegen die aktuelle mörderische Militär-Politik der IDF.

Dass die meisten auch Pro-Israelis darüber hinaus ohnehin keinerlei Ahnung von einer rationalen Coronapolitik hatten (in Israel gab es jenseits der Regierung in der Public Health, Immunologie und Medizinforschung insgesamt seriöse Ansätze, Corona rational und nicht totalitär-panisch hygienestaatsmäßig zu begegnen), bis heute, dazu überhaupt keine Probleme mit ihrer Ukraine-Unterstützung haben und nie etwas zu den Pro-Holocaust-Täter Denkmälern in der Ukraine sagen oder sich gegen die Rot=Braun Ideologie des bürgerlichen Mainstream wenden, kommt ohnehin noch dazu, aber wem sage ich das. Und von kapitalistischer Herrschaft und den Verwerfungen durch die neoliberale und post-neoliberale kapitalistische Weltpolitik haben zumal in dieser Szene auch nur zu wenige eine Ahnung, da wird lieber mit CDU-Politiker*innen gekuschelt, als linkszionistisch gekämpft – gegen Kapitalismus und gegen Antisemitismus in all seinen Formen.

Die Situation als ausweglos zu bezeichnen, wäre euphemistisch.

Die Zerstörung von Gaza im Schatten des Iran-Krieges und die Pulverisierung der jüdisch-zionistischen Ethik

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Das islamistische Regime in Teheran muss fallen. Es hätte nie an die Macht kommen dürfen und ist ein frauenverachtender Terrorstaat, der primitive Beweggründe – fanatische Religion – zu einer Staatsdoktrin gemacht hat. Der Hass auf Juden und Israel ist zentral für alle iranischen Politiker. Schon seit Jahrzehnten hätten alle Botschaften des Iran geschlossen gehört und das Land komplett isoliert – was natürlich nicht geschah, weil zumal der Kapitalismus mit dem Regime viel Geld verdient und der Welthandel von dem Land mit abhängt.

Doch jetzt sieht Israel die schrecklichen Folgen des Krieges vor Ort. Zerstörungen von Häusern, Wohnungen, ja ganzen Straßenzügen wie in Rehovot, Bat Yam, Haifa, Tel Aviv und vielen anderen Orten, schon über Dutzende Tote und Hunderte Verletzte.

Der linke Israeli, ehemalige Elitesoldat der IDF, Publizist und bekannte Menschenrechtsanwalt Michael Sfard schreibt heute in der Haaretz:

Wir müssen zugeben, dass dieses Phänomen so alt ist wie die Menschheit – gewalttätiger männlicher Tribalismus, der geradezu vor Stolz über die Fähigkeit, den stärksten Schlag auszuführen, platzt.

Ich bin kein Pazifist; manchmal ist die Anwendung von Gewalt notwendig. Aber Israel hat sich eine Weltanschauung zu eigen gemacht, nach der jedes Problem mit Gewalt gelöst werden sollte, und das israelische Volk ist zu einem Kollektiv geworden, das Gewalt und Brutalität bewundert, während es den Dialog und Kompromiss verachtet.

Sfar ist schockiert, wie die israelische Gesellschaft verroht und das völlige Plattmachen – im wörtlichen Sinne – des Gazastreifens propagiert, durchführt und feiert.

Verzeihen Sie mir also, wenn meine größte Befürchtung im Hinblick auf den Krieg mit dem Iran darin besteht, dass der geringe internationale und nationale Widerstand gegen die ethnische Säuberung und das Massenmorden im Gazastreifen vollends in sich zusammenbrechen wird.

Sfar ist Israeli, sein kurzes, einjähriges Leben in England war eine „Tragödie“ für ihn, er will in Israel leben – und kämpfen. Kämpfen gegen Rassismus, Ungerechtigkeit und Verbrechen wie die gezielte Vertreibung von Palästinenser*innen im Westjordanland und jetzt auch im Gazastreifen.

Und es ist wiederum der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas, der einen Tag nach dem Massaker von christlichen Milizen an Palästinensern in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila in Beirut im Libanon – das die israelische Armee und Besatzungsmacht hätte verhindern können und müssen! – mit einigen Hundert bis zu 3000 Massakrierten im September 1982 in einem Radiogespräch vom 28. September im Radio-Communauté mit Shlomo Malka und Alain Finkielkraut Folgendes sagte:

Niemand hat den ‚Holocaust‘ vergessen, es gibt keine Möglichkeit, diejenigen Sachverhalte zu vergessen, die zur unmittelbarsten und persönlichsten Erinnerung eines jeden an seine Verwandten, bezüglich derer man sich bisweilen anklagt, überlebt zu haben, gehören. Das rechtfertigt keineswegs, daß man sich der Stimme der Menschen verschließt, in der ebenso die Stimme Gottes erklingen kann. Sich auf den ‚Holocaust‘ berufen, um zu sagen, daß Gott unter allen Umständen mit uns ist, ist ebenso verabscheuenswert, wie das ‚Gott mit uns‘, das sich auf den Gürtelschnallen der Henker befand.

(Emmanuel Levinas (2007): Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 240.)

Sfard bezieht sich auf eine Analyse in der Haaretz vom 12. Juni 2025, worin es heißt:

Am Vorabend des Krieges hatte der Großraum Rafah im Gazastreifen 275.000 Einwohner. Das Flüchtlingslager Jabalya hatte 56.000 Einwohner. Beit Lahia hatte 108.000 Einwohner.

Da wurden ganze Städte einfach nahezu komplett zerstört. Die Gebäude wurden zerstört zu einem Zeitpunkt als alle Bewohner*innen bereits vertrieben waren. Es ist also kein Genozid. Es ist aber ein Kriegsverbrechen, gezielt die Infrastruktur eines bestimmten Volkes zu zerstören, damit dieses Volk keine Lebensgrundlage und keinen Ort zum Zurückkehren mehr hat.

Es geht Michael Sfard und vielen linkszionistischen Jüdinnen und Juden in Israel darum, dass diese Kriege die jüdische und zionistische Ethik beschädigen. Emmanuel Levinas würde massiv protestieren gegen das aktuelle Israel und die Politik im Westjordanland und in Gaza.

Der Zionismus hat mit religiösen Bedürfnissen rein gar nichts zu tun und „heilig“ ist dem Zionismus nicht das Land, schon gleich gar nicht das Westjordanland, ja nicht einmal die Klagemauer. Zionismus hieß für die Gründungsmütter und -väter: jüdische Souveränität!

Sfard findet es unerträglich, dass angebliche Verhandlungen über die Geiseln von Netanyahu nur benutzt wurden, um den Iran abzulenken. Doch die meisten Israelis scheinen das zu mögen, er ist deprimiert:

Leider weiß ich, dass diese Fragen die meisten Israelis nicht beunruhigen. Dass es hier fast niemanden gibt, mit dem man reden kann. Dass wir auf Drogen sind, voll von schwadronierenden Slogans und in militaristischer Ekstase schwebend.

Wir haben auch hier in Deutschland kaum jemanden, mit dem „wir“ – also die Linkszionist*innen – reden können. Die „Israel-Szene“ ist in einem bunkerfesten Kokon gefangen und sieht in nahezu jeder Stimme gegen „Bibi“ einen Antisemiten und die Palästina-Szene ist voll von blutlüsternen Antisemiten aller Geschlechter.

Das ist die Lage am 4. Tag des Israel-Iran Krieges und des 619. Tages des Krieges gegen die Hamas.

Es ist eine Lage, die viel tiefer blicken lässt, wenn man es sehen will, als es diese Fakten andeuten. Es geht um Millionen völlig kaputter Menschen im Gazastreifen, die Jahre oder Jahrzehnte brauchen werden, um ihre Häuser wieder aufzubauen. Damit züchtet Israel die nächste Hamas-Generation heran – das wiederum weiß die Elite in Israel, die militärische und geheimdienstliche und politische und will deshalb wie Trump alle Gaza-Palästinenser*innen zum Verlassen der Gegend zwingen („freiwillige“ Flucht).

Damit sie in Ägypten oder Jemen oder Jordanien die nächste Terrororganisation gegen die Juden aufbauen können?

Es braucht eine Allianz für den Zionismus und die Abraham Verträge waren ein wichtiger Schritt in diese Richtung, doch Israel verspielt dieses Vertrauen spätestens seit den nicht mehr nachvollziehbaren Aktionen in Gaza von Anfang 2024 bis heute.

Es muss um Angebote an Demokratie und Kooperation gehen, um die ganz konkrete Perspektive eines Staates Palästina, der nur existieren wird, wenn er Israel anerkennt. Wenn aber Israel einen solchen Staat Palästina nicht anerkennt, wird es keinen Frieden geben und weiter in regelmäßigen Abständen Bombenalarm, Tod und Verzweiflung. Auch ökonomisch wird Israel das nicht lange aushalten, zumal viele Junge dann doch auswandern werden, weil sie nicht von Rechtsextremen regiert werden wollen, von der Kriegssituation nicht zu schweigen.

Es kann auch sein, dass Israel sich Sympathien in Iran mit der dortigen eigentlich scharfen Anti-Mullah-Bevölkerung verspielt, weil die nicht sieht, ob all diese Angriffe nachvollziehbar sind und der Opposition im Iran auch helfen.

Natürlich muss das iranische Atomprogramm gestoppt werden – aber ob es gestoppt werden kann, ist offenkundig völlig unklar. Was ist dann das Ziel von Netanyahu? Hat er für Iran so wenig ein klares UND erfüllbares Ziel wie in Gaza? Will er wieder nur seine eigene Haut retten und die Geiseln dabei vergessen, wie schon so oft seit Oktober 2023?

In jedem Fall sieht die Zukunft für Israel und die ganze Region ohne eine starke linkszionistische Regierung in Israel trübe aus. Es wird weiter männliche Stärke, Gewalt und Brutalität geben und die jüdische und zionistische Ethik „des Anderen“ von Emmanuel Levinas, dem großen Zionisten, wird weiter im Geröllstaub von Gaza nicht zu sehen sein.

Der Haaretz-Text auf den Michael Sfar sich bezieht, betont die rechtsextreme Ideologie hinter der Zerstörung von Gaza:

In rechten Kreisen macht ein neuer Begriff die Runde: „Zarbiving“ Gaza, benannt nach Rabbi Avraham Zarbiv, einem Richter am Rabbinatsgericht in Tel Aviv und in der städtischen Siedlung Ariel sowie einem Reservisten in der technischen Einheit der Givati-Infanteriebrigade. Zarbiv hat mehrmals in Interviews auf dem Bibi-istischen Kanal 14 mit der Zerstörung geprahlt, die er und seine Kameraden mit den D9-Bulldozern in Gaza anrichten. „Wir haben begonnen, fünf-, sechs- und siebenstöckige Gebäude abzureißen. Das System wird immer besser, und es funktioniert.“

Viele „Pro-Palästinenser“, die gar nicht Pro-Palästina sind meistens, sondern primär den Judenmord und die Auslöschung des einzigen Judenstaates meinen, können solche Berichte wie in Haaretz auch zitieren – das darf aber niemals ein Grund sein, sie nicht zu zitieren, weil davon die jüdisch-zionistische Ethik wie im Sinne von Emmanuel Levinas abhängt.

Es geht um eine gemeinsame Zukunft und gegen den Hass, wie ihn einige in Israel jetzt schüren oder gar Schadenfreude empfinden, als eine iranische Rakete ein israelisch-arabisches Haus traf und vier Menschen tötete. Entgegen den Hetzern muss es um Koexistenz, gegenseitigen Respekt und Frieden gehen – das alles betont heute in einem kurzen Video der Knessetabgeordnete Rabbi Gilad Kariv und teilte das mit seiner WhatsApp-Gruppe. Kariv ist Mitglied der im Juli 2024 gegründeten Partei „Die Demokraten“.

Wir brauchen exakt solche Stimmen in und aus Israel.

Denn solange „Free Free Palestine“ heißt: Tod den Juden, ist kein Frieden möglich.

Sobald die Parole heißt „Palästina neben Israel in Frieden“ wird es endlich klappen.

Doch solange „Am Israel Chai“ heißt, das Leiden in Gaza oder dem Westjordanland oder die rechtsextreme Innenpolitik zu ignorieren oder zu feiern, ist auch das nicht immer ein zielführender Slogan.

So komplex ist die Welt – zu kompliziert für beide Seiten, fast immer.

 

P.S.:

Wenige Stunden nach meinem Text kommt jetzt ein Kommentar der Soziologin Eva Illouz in der ZEIT, der ziemlich exakt meine Position untermauert:

„Macht es euch nicht zu einfach. Anmerkungen zur großen Frage, wie man den israelischen Angriff auf den Iran beurteilen soll“.

P.P.S.:

Und noch ein Text aus der ZEIT von heute, ein Inteview mit dem Historiker Moshe Zimmermann, der aktuell in Berlin ist:

„Es wird nur besser werden, wenn sich Israel auf Verständigung mit der Umwelt einstellt und gleichzeitig auch die arabische Welt sich mit der Idee versöhnt, dass auch eine jüdische Minderheit in der Region leben und einen Staat haben kann.“

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