The Berlin International Center for the Study of Antisemitism

Schlagwort: Haaretz

Hilferuf aus Israel: „Wir halten es nicht mehr aus“

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Treffen sich zwei alte Bekannte am Bahnhofskiosk in Berlin, Zoologischer Garten, der eine ist Abonnent einer linken Publikumszeitschrift und hatte sie heute schon im Briefkasten gefunden, der andere blätterte grade in ihr rum:

„Eine Hungersnot! Eine Katastrophe! Stell dir das vor. Zwei!, sagt der Abonnent.

Ja, zwei. Von der Hungersnot bedroht, in unterschiedlicher Intensität. Ja, einfach unglaublich. Und alle schauen weg, grade ‚wir Linken‘.

Ganz genau.

Also zwei Millionen.

Hallo? Ich meinte „ZWEI“ – zwei Menschen sind von der Hungersnot bedroht, zwei israelische Geiseln, es gibt doch die schockierenden Videos der Hamas.

Ja, das ist unerträglich, Nazi-style Propaganda dieser Muslim-Faschos. Aber es gibt neben diesen zwei hungernden Geiseln noch zwei Millionen Palästinenser die hungern.

Spinnst du? Die hungern doch nicht, die essen absichtlich zu wenig, damit Israel wieder als der Böse dasteht.

Das meinst du nicht ernst, oder?

Doch.“

Diese Szene hat es heute wirklich in Berlin am Zoologischen Garten gegeben. Es gibt Zeuginnen und Zeugen.

 

Die Verkommenheit der Linken ist seit Jahren mit Händen greifbar. Aber jetzt dieser Realitätsverlust in Bezug auf israelische Kriegsverbrechen. Diese Autoren dünken sich pro-israelisch, dabei schaden sie dem Judenstaat ganz extrem, wenn sie die Propaganda der israelischen Regierung für die Wahrheit nehmen, dass es keine Hungersnot gebe. Oder dass es keine absichtlichen Morde an Zivilist*innen geben würde. Oder dass es keine Siedlergewalt in extremem Ausmaße im Jahr 2025 im Westjordanland gebe. Oder dass es keine Aufrufe der rechtsextremen Regierungsmitglieder für „ethnische Säuberung“ und Wiederbesiedelung Gazas geben würde.

Während laut dem französischen Soziologen Emile Durkheim von 1893 die „mechanische Solidarität“ die traditionelle, ’stammesgebundene‘ vorindustrielle Solidarität meint, ist die „organische Solidarität“ auf der kapitalistischen Arbeitsteilung basierend. Sie meint auch und gerade die Solidarität der Atomisierten, der Fremden, der Arbeitskolleg*innen, die nicht mit einem verwandt sind. Und diese „organische Solidarität“ gebe es in Israel nicht, so die Haaretz-Journalistin Noa Limone am 28. August 2025. Zwar habe es in Israel eine ganz außergewöhnliche und beeindruckende innerisraelische Solidarität nach dem genozidalen Massaker der Muslimfaschisten der Hamas vom 7. Oktober 2023 gegeben. Ärztinnen und Ärzte halfen spontan und kostenlos, Menschen zu versorgen oder zu therapieren, Bürger*innen spendeten Kleider, Nahrung, boten Wohnungen an, es war ein großer Zusammenhalt in Israel spürbar. Doch was ist jetzt mit der Solidarität israelischer Wissenschaftler*innen mit denen in Gaza, wo es dort keine Unis mehr gibt? Wo die Solidarität israelischer Kameramänner oder TV-Journalist*innen mit den von der IDF im Nasser-Krankenhaus vorsätzlich in einem perfiden Doppelschlag ermordeten Kolleg*innen? Noa Simone sieht da keine Solidarität:

Aus dieser Perspektive ist jeder Journalist, Arzt und Professor aus Gaza automatisch ein Terrorist. In Israel triumphiert immer die nationale Identität, wodurch andere Identitäten und Perspektiven marginalisiert und minimiert werden. Deshalb ist die Solidarität in Israel begrenzt. Deshalb ist auch die Zivilgesellschaft, die wir so sehr gelobt haben, nicht wirklich zivil.

(alle Übersetzungen aus dem Englischen in diesem Text von CH)

Wir haben es in Deutschland, dem Land mit der größten Moral und den intelligentesten Autor*innen, grade bei den Linken, überhaupt mit einer Volksgemeinschaft der philosemitischen Antisemiten zu tun, die sich hinter Israelfahnen verstecken und weder Emmanuel Levinas noch Eva Illouz oder die Haaretz je gelesen haben oder heute lesen und diskutieren.

Wir haben es mit Leuten zu tun, die so obsessiv dabei sind, der israelischen Regierung noch jede Lüge zu glauben, dass man sie weder als Journalisten oder Autoren noch als Menschen jemals wieder ernst nehmen kann.

Und trotzdem: Es gibt noch etwas Hoffnung in diesen Zeiten des Niedergangs und der moralischen Abgründe.

Ein Journalist der Haaretz schreibt am 27. August 2025 einen Hilferuf an die Welt und vor allem an Europa. Jene, die Israel liebten, sollten die aktuelle Regierung mit allen Mitteln bekämpfen, das ist die Kernforderung. Es geht dem Autoren, Uri Misgav, nicht um die rein formale Anerkennung eines Staates Palästina, er wendet sich logisch gegen einen BDS-mäßigen Boykott Israels. Misgav ist Zionist. Er ist aber ein Linkszionist und er kann es ethisch, moralisch und persönlich nicht mehr ertragen. Er möchte befreit werden von der rechtsextremen, religiös-faschistoiden Regierung von Benjamin Netanyahu:

Wir brauchen dringend Ihre und eure Hilfe. Wir wurden von einer kriminellen Bande entführt, die unser demokratisches System ausgenutzt hat, um an die Macht zu kommen, und nun versucht, diese Demokratie zugunsten eines tyrannischen Regimes mit faschistischen und ultranationalistischen Zügen zu zerstören. Das ist eine alte und bekannte Geschichte, die sich schon an anderen Orten abgespielt hat. Dieses Mal ist es uns passiert. Wir dachten, wir könnten das alleine bewältigen; es schien sogar, als wären wir auf dem richtigen Weg.

Er erwähnt den U2-Musiker Bono, der für seinen Zionismus und seine scharfe Attacke auf Benjamin Netanyahu legendär ist.

Der in Israel für Skandale, Aufdeckungen, aber auch Fehleinschätzungen bekannte Haaretz-Autor Uri Misgav endet seinen Text mit folgender flehender Bitte, die die paar wenigen linken und liberalen Israelfreunde aufwecken sollten, wenn sie noch einen Restbestand an Menschen- und Zionsliebe in sich tragen sollten:

Deshalb brauchen wir Sie, um einen wirksamen Weg zu finden, den Krieg und diese Regierung zu stoppen. Berufen Sie eine große internationale Konferenz ein, wie es in der Vergangenheit bereits mehrfach geschehen ist, unter der Führung Europas. Es stimmt, dass sowohl wir als auch Sie ein ernstes Problem mit der aktuellen amerikanischen Regierung haben. Versuchen Sie, ohne sie voranzukommen. Machen Sie Europa wieder großartig.

Es besteht keine Notwendigkeit, Tel Aviv zu bombardieren, wie Sie es in Serbien getan haben.

Ein Embargo für Angriffswaffen und die Androhung, die Beziehungen abzubrechen, werden ausreichen.

Bringen Sie einfach Netanjahu und seine verabscheuungswürdigen Gefolgsleute in die Knie und helfen Sie uns, ihn in den Mülleimer der Geschichte zu befördern.

Wir flehen Sie an: Jetzt ist es an der Zeit. Wir halten es nicht mehr aus.

Was jedoch die selbst ernannten Israelfreund*innen in Deutschland am wenigsten leiden können, sind nicht Nazis oder die Hamas, nein, was sie wirklich am allermeisten regelrecht hassen sind Linkszionist*innen aus Israel. Sie hassen die Kritik an Netanyahu. Sie hassen den Realitätsbezug der Kritiker*innen in Israel.

Diese „Israelfreund*innen“ lieben den Realitätsverlust und die staatliche Propaganda aus Jerusalem.

Daher wird auch dieser Hilferuf aus Israel bei diesen Fanatiker*innen nicht gehört werden. Aber der bürgerliche Mainstream, welche Ironie, der könnte dafür offen sein. Vorneweg ein Mann, der Israel retten möchte: der französische Präsident Macron, womit sich die Haaretz die letzten Tage intensiv beschäftigt hat.

Was die Linken in Israel gelernt haben, haben die strunzdeutschen Linken nie verstanden: Der Feind steht im eigenen Land. Wenn das in jedem bestehenden Land erkannt wird, dann kommt die Revolution.

Das antizionistische Israel und die Hungersnot in Gaza

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Am heutigen 22. August 2025 wurde erstmals im Nahen Osten eine Hungersnot festgestellt.

Im Bezirk Gaza, inklusive Gaza-City, wurde von der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) die Stufe 5 einer akuten Hungersnot erklärt. Die Stufe 5 ist die schlimmste Stufe. Schon vor Monaten wurde vor einer Hungernot gewarnt, aber Israel hat nichts getan, um die von Israel zu verantwortende Krise abzumildern. Im Gegenteil: die aktuell laufende „Eroberung“ von Gaza-City wird nicht nur die Geiseln gefährden, sondern auch die palästinensische Bevölkerung.

Der 59-seitige Bericht der IPC zeigt detailliert, dass die örtliche Nahrungsmittelversorgung, inklusive der Landwirtschaft und der Zugang zu sauberem Wasser, nahezu vollständig in sich zusammengebrochen sind und durch den Krieg zerstört wurden.

Die israelische Regierung gibt entgegen ihrer Leugnung einer Hungersnot in Gaza, zu, dass es diese gibt, und zwar indirekt:

„There is no famine in Gaza,“ the ministry said, accusing the IPC of presenting a report „based on Hamas lies laundered through organizations with vested interests.“

„Over 100,000 trucks of aid have entered Gaza since the start of the war, and in recent weeks a massive influx of aid has flooded the Strip with staple foods and caused a sharp decline in food prices, which have plummeted in the markets,“ the ministry said.

Wie die Tagesschau berichtet, ist das eine viel zu geringe Zahl an LKWs:

Die Zahl der von Israel veröffentlichten Lastwagen-Lieferungen lässt sich derzeit nicht unabhängig bestätigen. 100.000 Lkw-Ladungen reichen jedoch bei Weitem nicht aus, wie Hilfsorganisationen wiederholt betont haben. Vor dem 7. Oktober 2023 kamen nach Angaben der Organisation Medico International zwischen 500 bis 600 Lastwagen täglich in den Gazastreifen. Das ergäbe bei dem seit 685 Tagen andauernden Krieg eine Menge von 342.500 bis 411.000 Lastwagen – deutlich mehr als die von Israel verzeichneten 100.000 Lkw. Hinzu kommt, dass der Bedarf durch die massive Zerstörung der Infrastruktur und landwirtschaftlichen Flächen nun deutlich höher liegen dürfte als vor Beginn des Krieges.

Damit wäre nur ca. 25% der notwendigen Menge an Lebensmitteln und Hilfsgütern nach Gaza gekommen. Zudem hat die komplette Blockade von 11 Wochen im Frühjahr 2025 die 2 Millionen Menschen im Gazastreifen extrem geschwächt, zusätzlich zu den Traumatisierungen durch permanentes Schießen, durch Explosionen, Panzergeräusche, Maschinengewehre und so weiter.

Dass das alles vorbei wäre, würde es einen Aufstand gegen die Hamas geben, ist wahrscheinlich. Aber die Hamas lässt die Geiseln nicht frei und Israel tut spätestens seit April 2024 alles, um einen „Deal“ zu verhindern.

Wie ein ehemaliger enger Berater des damaligen US-Außenministers Blinken jetzt im israelischen Fernsehen auf Channel 13 sagte, hat Netanyahu gleich zu Beginn des Krieges klar gemacht, dass ihm völlig egal sei, was die USA denken und dass der Krieg unendlich lange gehen wird.

Das wiederum hat sehr viel mit der rechtsextremen und religiösen, messianischen Ideologie der aktuellen israelischen Regierung und weiter Teile Israels zu tun. Darauf weist ein Kritiker des Messianismus in einem Gespräch auf Haaretz hin. Er meint, dass in wenigen Jahren kein Linker mehr in Israel leben werde, weil die Gesellschaft total religiös fanatisiert sei. Dafür spricht der rassistische Messianismus des Projektes E1 im Westjordanland, das einen palästinensischen Staat verhindern wird, wie Minister Smotrich verkündet.

Ich habe im Juni 2022 über die katastrophalen Konsequenzen des E1-Projektes berichtet („Schwanengesang der Israelsolidarität, „sekundärer Analphabetismus“ oder Kritik am „linearen Denken“ von Corona über die Ukraine bis zu Israel?“).

Der ehemalige Vizechef der israelischen Luftwaffe Nimrod Sheffer sagt in einem Gespräch mit der Zeit am 18. August 2025, dass der Krieg sofort beendet werden muss, weil er sinnlos ist:

Israel hat in Gaza mehr Gewalt eingesetzt als in jedem anderen Krieg in der Geschichte. Und das auf einem sehr kleinen Gebiet und gegen eine Terrororganisation – nicht gegen die mächtige ägyptische Armee oder die syrische Armee wie 1973. Wie kann der Einsatz von noch mehr militärischer Macht etwas erreichen, was wir in den letzten zwei Jahren nicht erreicht haben? Das geht nicht. Diejenigen, die sagen, wir werden die Hamas völlig vernichten, indem wir noch mehr Gewalt anwenden, führen uns in die Irre.

Der außenpolitische Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit, Jörg Lau, hat in einem Gespräch mit seiner Kollegin, der Journalistin Hannah Grünewald, am 31. Juli 2025 verdeutlicht, dass die aktuelle Kriegspolitik Israel dem Staat Israel enormen Schaden zufügt und dass die Situation für die hungernden Palästinenser*innen im Gazastreifen katastrophal ist. Grünewald unterstreicht das in einem längeren Intro, in dem sie die verschiedenen Kritiken an Israels Kriegsführung in Gaza darstellt. Es wird in dem Gespräch deutlich, dass beide eine pro-israelische Haltung haben und ziemlich fassungslos sind, zumal der langjährige Nahostexperte Jörg Lau, wie Israel sich verhält und Länder vor den Kopf stößt, die doch klar pro-israelisch sind.

Kein Politiker Israels hat Israel so stark isoliert wie Netanyahu. Ob das überhaupt wieder zu reparieren ist, ist völlig unklar. Er unterstellt ja allen diesen Ländern Judenhass und Antisemitismus – und das ist eine Diffamierung von klar als Israelfreunden bekannten Politiker*innen, die aber jetzt die menschenverachtende Hunger- und Kriegspolitik Israels in Gaza nicht mehr mittragen können und wollen.

Das was Netanyahu repräsentiert, ist ein messianisches, nationalistisch-religiöses und somit antizionistisches Israel.

Zionismus basiert auf den Menschenrechten – nicht auf ein herbei fantasiertes Gesetz Gottes.

Zionismus basiert auf der Gleichheit der Menschen bei jüdischer Souveränität im eigenen Land – nicht auf Gesetzlosigkeit, Macht und Gewalt gegenüber jenen, die keine Juden sind im Staat Israel oder den besetzten Gebieten.

Zionismus heißt jüdisch und demokratisch – und nicht religiös-fanatisch, frauenverachtend und 12 Kinder pro Familie und eine Indoktrination der Kinder von Kindesbeinen an.

Zionismus heißt selbst denken und nicht in Yeshivas nachbeten, was andere für Hirngespinste ausgeheckt haben.

All das wird die religiöse Bewegung nicht abschrecken, gerade die israelische Armee IDF weiter zu indoktrinieren, wie der oben zitierte Aktivist und Rechtsanwalt Yair Littman Nehorai sagt. Die Verleihung des Israelpreises an den Rabbiner Eli Sadan 2016 war für ihn so ein Knackpunkt, wo der Staat offiziell eine extrem rechte, messianische Ideologie ausgezeichnet hat:

Eli Sadan ist General in der Armee von Zvi Tau – dem Vorsitzenden der Noam-Partei – und hat in Eli [einer Siedlung im Westjordanland] das Vorbereitungsprogramm für den Militärdienst mit einem klaren Ziel ins Leben gerufen: eine religiöse Revolution im Land anzuzetteln. Er wurde für seine Rolle als „Brücke“ zwischen verschiedenen Teilen der israelischen Gesellschaft ausgezeichnet, während er gleichzeitig eine Institution gründete, die das größte Projekt zur Untergrabung der demokratischen Werte Israels darstellt. Seit Jahrzehnten vermitteln er und seine Mitarbeiter jungen Menschen alle messianischen Werte: Widerstand gegen säkulare Juden, reformierte Juden, konservative Juden, LGBTQ-Personen, Linke. Gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichheit. (Übersetzung CH)

 

Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz warnt in einem Artikel in  Haaretz am 8. August 2025 nachdrücklich und eloquent davor, dass sich die Pro-Israel Szene angesichts der schrecklichen Entwicklungen in Gaza und Israel sowie der Westbank in Schweigen hüllt.

Es muss darum gehen, den Antisemitismus genauso zu erkennen und zu bekämpfen, wie die rechtsextreme Politik von Netanyahu zu erkennen und zu bekämpfen, im Zweifel auch mit Sanktionen – das sagt eine linke Zionistin:

Die Welt braucht rote Linien. Wenn die Regierung Netanjahu die dauerhafte Besetzung des Gazastreifens anstrebt und wenn sie, wie sie es versucht hat, die juristischen – und damit demokratischen – Schutzmechanismen des eigenen Staates untergräbt, dann könnten Sanktionen eine angemessene Reaktion sein.

In der Zwischenzeit dürfen Freunde Israels nicht die Augen vor dem Wesen der Regierung in Jerusalem, ihren fehlgeleiteten Prioritäten, ihrer Inkompetenz und ihrem nicht mehr zu rechtfertigenden Krieg gegen den Gazastreifen verschließen. (Übersetzung CH)

Wenn man sich angesichts dessen Texte in der Jüdischen Allgemeinen oder Äußerungen von Aktivist*innen der Deutsch-Israelischen Gesellschaft oder nahezu jeder Pro-Israel NGO anschaut, kann man nur den Kopf schütteln: so viel Realitätsverweigerung ist nicht auszuhalten. Diese Leute merken wirklich (!) nicht, dass sie Juden und Israel schaden, wenn sie nicht die Regierung Netanyahu und die rechtsextrem-messianische Ideologie Israels kritisieren.

Mit einer dauerhaften Besatzung Gazas, mit neuen Siedlungen und dem E1-Projekt wird es keinen Staat Palästina geben – und das wiederum wird Israel on the long run zerstören. Wer das nicht sieht, will es nicht sehen und ist kein Freund eines demokratischen und jüdischen Staates Israel, dem einzigen Judenstaat. Die Neue Rechte muss in den USA so bekämpft werden wie in Israel, Ungarn, Italien, Deutschland, Holland oder wo immer – genauso wie der linke Populismus und Antisemitismus kritisiert werden muss, ob er nun Regierungsmacht hat oder in der Opposition ist.

Nimrod Sheffer, der IDF-Soldat, hat mehr Erfahrung von Militär als die meisten in der deutschen Pro-Israel Szene und hält kategorisch fest:

Jeder, der etwas von Truppeneinsatz, Operationen und militärischer Macht versteht, weiß, dass es keine Möglichkeit gibt, den letzten Terroristen zu töten oder das letzte AK-47-Sturmgewehr zu zerstören. Es gibt keinen Grund dafür, den Krieg weiterzuführen und dafür einen so hohen Preis zu zahlen. Das zu tun ist unmoralisch. Wenn das Militär seine Rolle erfüllt hat, die Fähigkeiten der Gegenseite zu zerstören, dann muss die Diplomatie übernehmen. Und das ist der fehlende Teil.

Ob es darüber hinaus strategisch noch besser gewesen wäre, die diplomatische und weltweite Unterstützung Israels direkt nach dem 7. Oktober, in eine Allianz gegen die Hamas und den Iran zu schmieden, wie es der Jurist, Völkerrechtler und Zionist Irwin Cotler meint, sei dahingestellt. In jeden Fall hat der anfangs nachvollziehbare Krieg gegen die Hamas seit langer Zeit seine Berechtigung verloren.

Dass jetzt Israel für die erste Hungersnot im Nahen Osten verantwortlich ist und Milliarden Menschen Israel mit den Bildern von hungernden Kindern assoziiert, das geht auf das Konto der Hamas, die den Krieg begonnen hat und ohne die es ihn nicht geben würde – es geht aber ebenso auf das Konto von Benjamin Netanyahu, der diesen Krieg nur führt, weil er Panik hat, endlich dahin zu kommen, wo ihn Millionen Israelis sehen: ins Gefängnis, wegen Korruption und mittlerweile auch wegen Kriegsverbrechen.

Dass eine Demokratie wie Israel Hunger als Waffe einsetzt, hätte niemals passieren dürfen. Das beschädigt den Zionismus und es tötet Palästinenser und Palästinenserinnen, jung wie alt. Das Bild des bis auf die Knochen abgemagerten 18-monatigen Jungen Mohammed al-Mutawaq ging um die Welt, die New York Times brachte es auch. Und dann gibt es wirklich viele Leute in dieser Pro-Israel-Szene, die sogleich – medizinisch ‚geschult‘ und menschlich am Ende – feststellen wollten, dass der arme Junge genetisch vorerkrankt sei.

Das bringt den Kinderarzt Professor Dan Turner aus Israel völlig aus der Fassung. In einem ausführlichen Gespräch mit der Times of Israel sagt er, dass der Hunger diesen Jungen so zugerichtet hat und keine noch so dramatische genetische Vorerkrankung. Ja schlimmer noch: gerade wenn das Kind vorerkrankt ist, hätte es umso bessere Ernährung und medizinische Hilfe benötigt, so Turner.

Turner berichtet darüber hinaus von Rassismus und menschenverachtenden Maßnahmen in israelischen Krankenhäusern, die man nicht glauben kann, man muss sich den Podcast anhören, um das von einem, der es live gesehen hat, wie Dan Turner gesagt bekommen, wie z.B. ein 12- oder 13-jähriger palästinensischer Junge, dem ein Bein amputiert worden war, weil israelische Soldaten den unbewaffneten Jungen angeschossen hatten (es gab nie ein Verfahren gegen den Jungen wegen Angriffs auf die IDF, so Turner), am nächsten Morgen mit beiden Händen am Bett gefesselt lag.

Noch in vielen Jahren und Jahrzehnten werden die Palästinenser aus Gaza von dieser Hungersnot gezeichnet sein – zwei Millionen Menschen (abzüglich der Muslim-Faschisten der Hamas und des Islamischen Jihad). Das ist ein Trauma und erschütternd. Wie soll da jemals Frieden entstehen?

Es geht ganz grundsätzlich darum endlich zu erkennen, dass beide Seiten große Schuld haben. Die Palästinenser am präzedenzlosen Massaker vom 7. Oktober, der zweiten Intifada und vielen weiteren Terroranschlägen. Und Israel wegen der seit 1967 andauernden Besatzung und der Weigerung, Palästinensern wirklich zuzuhören.

Das muss sich ändern, auch wenn die Chancen dafür nie so schlecht waren wie heute.

Aber die Regierung Netanyahu muss zerbrechen, wenn Israel – als jüdischer und demokratischer Staat – überleben will – und natürlich darf keine Regierung folgen, die genauso extremistisch ist…

Die obige sehr menschenverachtende Krankenhausgeschichte passierte lange vor dem 7. Oktober und zeigt eine (nicht zuletzt patriarchale) Gewaltförmigkeit, die der tief brutalisierten israelischen Gesellschaft eigen ist. Das kommt gleichwohl nicht von ungefähr, seit 1948 ist das Land von Feinden umzingelt.

Aber das rechtfertigt nicht die Demütigung des Anderen, wie Immanuel Kant oder der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas sagen würden.

Der Arzt und Zionist Dan Turner bringt es auf den Punkt:

Unsere Feinde menschlich zu behandeln, macht uns zu Menschen. (Übersetzung CH)

Doch davon will die deutsche Pro-Israel Szene lieber schweigen.

Die Zerstörung von Gaza im Schatten des Iran-Krieges und die Pulverisierung der jüdisch-zionistischen Ethik

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Das islamistische Regime in Teheran muss fallen. Es hätte nie an die Macht kommen dürfen und ist ein frauenverachtender Terrorstaat, der primitive Beweggründe – fanatische Religion – zu einer Staatsdoktrin gemacht hat. Der Hass auf Juden und Israel ist zentral für alle iranischen Politiker. Schon seit Jahrzehnten hätten alle Botschaften des Iran geschlossen gehört und das Land komplett isoliert – was natürlich nicht geschah, weil zumal der Kapitalismus mit dem Regime viel Geld verdient und der Welthandel von dem Land mit abhängt.

Doch jetzt sieht Israel die schrecklichen Folgen des Krieges vor Ort. Zerstörungen von Häusern, Wohnungen, ja ganzen Straßenzügen wie in Rehovot, Bat Yam, Haifa, Tel Aviv und vielen anderen Orten, schon über Dutzende Tote und Hunderte Verletzte.

Der linke Israeli, ehemalige Elitesoldat der IDF, Publizist und bekannte Menschenrechtsanwalt Michael Sfard schreibt heute in der Haaretz:

Wir müssen zugeben, dass dieses Phänomen so alt ist wie die Menschheit – gewalttätiger männlicher Tribalismus, der geradezu vor Stolz über die Fähigkeit, den stärksten Schlag auszuführen, platzt.

Ich bin kein Pazifist; manchmal ist die Anwendung von Gewalt notwendig. Aber Israel hat sich eine Weltanschauung zu eigen gemacht, nach der jedes Problem mit Gewalt gelöst werden sollte, und das israelische Volk ist zu einem Kollektiv geworden, das Gewalt und Brutalität bewundert, während es den Dialog und Kompromiss verachtet.

Sfar ist schockiert, wie die israelische Gesellschaft verroht und das völlige Plattmachen – im wörtlichen Sinne – des Gazastreifens propagiert, durchführt und feiert.

Verzeihen Sie mir also, wenn meine größte Befürchtung im Hinblick auf den Krieg mit dem Iran darin besteht, dass der geringe internationale und nationale Widerstand gegen die ethnische Säuberung und das Massenmorden im Gazastreifen vollends in sich zusammenbrechen wird.

Sfar ist Israeli, sein kurzes, einjähriges Leben in England war eine „Tragödie“ für ihn, er will in Israel leben – und kämpfen. Kämpfen gegen Rassismus, Ungerechtigkeit und Verbrechen wie die gezielte Vertreibung von Palästinenser*innen im Westjordanland und jetzt auch im Gazastreifen.

Und es ist wiederum der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas, der einen Tag nach dem Massaker von christlichen Milizen an Palästinensern in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila in Beirut im Libanon – das die israelische Armee und Besatzungsmacht hätte verhindern können und müssen! – mit einigen Hundert bis zu 3000 Massakrierten im September 1982 in einem Radiogespräch vom 28. September im Radio-Communauté mit Shlomo Malka und Alain Finkielkraut Folgendes sagte:

Niemand hat den ‚Holocaust‘ vergessen, es gibt keine Möglichkeit, diejenigen Sachverhalte zu vergessen, die zur unmittelbarsten und persönlichsten Erinnerung eines jeden an seine Verwandten, bezüglich derer man sich bisweilen anklagt, überlebt zu haben, gehören. Das rechtfertigt keineswegs, daß man sich der Stimme der Menschen verschließt, in der ebenso die Stimme Gottes erklingen kann. Sich auf den ‚Holocaust‘ berufen, um zu sagen, daß Gott unter allen Umständen mit uns ist, ist ebenso verabscheuenswert, wie das ‚Gott mit uns‘, das sich auf den Gürtelschnallen der Henker befand.

(Emmanuel Levinas (2007): Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 240.)

Sfard bezieht sich auf eine Analyse in der Haaretz vom 12. Juni 2025, worin es heißt:

Am Vorabend des Krieges hatte der Großraum Rafah im Gazastreifen 275.000 Einwohner. Das Flüchtlingslager Jabalya hatte 56.000 Einwohner. Beit Lahia hatte 108.000 Einwohner.

Da wurden ganze Städte einfach nahezu komplett zerstört. Die Gebäude wurden zerstört zu einem Zeitpunkt als alle Bewohner*innen bereits vertrieben waren. Es ist also kein Genozid. Es ist aber ein Kriegsverbrechen, gezielt die Infrastruktur eines bestimmten Volkes zu zerstören, damit dieses Volk keine Lebensgrundlage und keinen Ort zum Zurückkehren mehr hat.

Es geht Michael Sfard und vielen linkszionistischen Jüdinnen und Juden in Israel darum, dass diese Kriege die jüdische und zionistische Ethik beschädigen. Emmanuel Levinas würde massiv protestieren gegen das aktuelle Israel und die Politik im Westjordanland und in Gaza.

Der Zionismus hat mit religiösen Bedürfnissen rein gar nichts zu tun und „heilig“ ist dem Zionismus nicht das Land, schon gleich gar nicht das Westjordanland, ja nicht einmal die Klagemauer. Zionismus hieß für die Gründungsmütter und -väter: jüdische Souveränität!

Sfard findet es unerträglich, dass angebliche Verhandlungen über die Geiseln von Netanyahu nur benutzt wurden, um den Iran abzulenken. Doch die meisten Israelis scheinen das zu mögen, er ist deprimiert:

Leider weiß ich, dass diese Fragen die meisten Israelis nicht beunruhigen. Dass es hier fast niemanden gibt, mit dem man reden kann. Dass wir auf Drogen sind, voll von schwadronierenden Slogans und in militaristischer Ekstase schwebend.

Wir haben auch hier in Deutschland kaum jemanden, mit dem „wir“ – also die Linkszionist*innen – reden können. Die „Israel-Szene“ ist in einem bunkerfesten Kokon gefangen und sieht in nahezu jeder Stimme gegen „Bibi“ einen Antisemiten und die Palästina-Szene ist voll von blutlüsternen Antisemiten aller Geschlechter.

Das ist die Lage am 4. Tag des Israel-Iran Krieges und des 619. Tages des Krieges gegen die Hamas.

Es ist eine Lage, die viel tiefer blicken lässt, wenn man es sehen will, als es diese Fakten andeuten. Es geht um Millionen völlig kaputter Menschen im Gazastreifen, die Jahre oder Jahrzehnte brauchen werden, um ihre Häuser wieder aufzubauen. Damit züchtet Israel die nächste Hamas-Generation heran – das wiederum weiß die Elite in Israel, die militärische und geheimdienstliche und politische und will deshalb wie Trump alle Gaza-Palästinenser*innen zum Verlassen der Gegend zwingen („freiwillige“ Flucht).

Damit sie in Ägypten oder Jemen oder Jordanien die nächste Terrororganisation gegen die Juden aufbauen können?

Es braucht eine Allianz für den Zionismus und die Abraham Verträge waren ein wichtiger Schritt in diese Richtung, doch Israel verspielt dieses Vertrauen spätestens seit den nicht mehr nachvollziehbaren Aktionen in Gaza von Anfang 2024 bis heute.

Es muss um Angebote an Demokratie und Kooperation gehen, um die ganz konkrete Perspektive eines Staates Palästina, der nur existieren wird, wenn er Israel anerkennt. Wenn aber Israel einen solchen Staat Palästina nicht anerkennt, wird es keinen Frieden geben und weiter in regelmäßigen Abständen Bombenalarm, Tod und Verzweiflung. Auch ökonomisch wird Israel das nicht lange aushalten, zumal viele Junge dann doch auswandern werden, weil sie nicht von Rechtsextremen regiert werden wollen, von der Kriegssituation nicht zu schweigen.

Es kann auch sein, dass Israel sich Sympathien in Iran mit der dortigen eigentlich scharfen Anti-Mullah-Bevölkerung verspielt, weil die nicht sieht, ob all diese Angriffe nachvollziehbar sind und der Opposition im Iran auch helfen.

Natürlich muss das iranische Atomprogramm gestoppt werden – aber ob es gestoppt werden kann, ist offenkundig völlig unklar. Was ist dann das Ziel von Netanyahu? Hat er für Iran so wenig ein klares UND erfüllbares Ziel wie in Gaza? Will er wieder nur seine eigene Haut retten und die Geiseln dabei vergessen, wie schon so oft seit Oktober 2023?

In jedem Fall sieht die Zukunft für Israel und die ganze Region ohne eine starke linkszionistische Regierung in Israel trübe aus. Es wird weiter männliche Stärke, Gewalt und Brutalität geben und die jüdische und zionistische Ethik „des Anderen“ von Emmanuel Levinas, dem großen Zionisten, wird weiter im Geröllstaub von Gaza nicht zu sehen sein.

Der Haaretz-Text auf den Michael Sfar sich bezieht, betont die rechtsextreme Ideologie hinter der Zerstörung von Gaza:

In rechten Kreisen macht ein neuer Begriff die Runde: „Zarbiving“ Gaza, benannt nach Rabbi Avraham Zarbiv, einem Richter am Rabbinatsgericht in Tel Aviv und in der städtischen Siedlung Ariel sowie einem Reservisten in der technischen Einheit der Givati-Infanteriebrigade. Zarbiv hat mehrmals in Interviews auf dem Bibi-istischen Kanal 14 mit der Zerstörung geprahlt, die er und seine Kameraden mit den D9-Bulldozern in Gaza anrichten. „Wir haben begonnen, fünf-, sechs- und siebenstöckige Gebäude abzureißen. Das System wird immer besser, und es funktioniert.“

Viele „Pro-Palästinenser“, die gar nicht Pro-Palästina sind meistens, sondern primär den Judenmord und die Auslöschung des einzigen Judenstaates meinen, können solche Berichte wie in Haaretz auch zitieren – das darf aber niemals ein Grund sein, sie nicht zu zitieren, weil davon die jüdisch-zionistische Ethik wie im Sinne von Emmanuel Levinas abhängt.

Es geht um eine gemeinsame Zukunft und gegen den Hass, wie ihn einige in Israel jetzt schüren oder gar Schadenfreude empfinden, als eine iranische Rakete ein israelisch-arabisches Haus traf und vier Menschen tötete. Entgegen den Hetzern muss es um Koexistenz, gegenseitigen Respekt und Frieden gehen – das alles betont heute in einem kurzen Video der Knessetabgeordnete Rabbi Gilad Kariv und teilte das mit seiner WhatsApp-Gruppe. Kariv ist Mitglied der im Juli 2024 gegründeten Partei „Die Demokraten“.

Wir brauchen exakt solche Stimmen in und aus Israel.

Denn solange „Free Free Palestine“ heißt: Tod den Juden, ist kein Frieden möglich.

Sobald die Parole heißt „Palästina neben Israel in Frieden“ wird es endlich klappen.

Doch solange „Am Israel Chai“ heißt, das Leiden in Gaza oder dem Westjordanland oder die rechtsextreme Innenpolitik zu ignorieren oder zu feiern, ist auch das nicht immer ein zielführender Slogan.

So komplex ist die Welt – zu kompliziert für beide Seiten, fast immer.

 

P.S.:

Wenige Stunden nach meinem Text kommt jetzt ein Kommentar der Soziologin Eva Illouz in der ZEIT, der ziemlich exakt meine Position untermauert:

„Macht es euch nicht zu einfach. Anmerkungen zur großen Frage, wie man den israelischen Angriff auf den Iran beurteilen soll“.

P.P.S.:

Und noch ein Text aus der ZEIT von heute, ein Inteview mit dem Historiker Moshe Zimmermann, der aktuell in Berlin ist:

„Es wird nur besser werden, wenn sich Israel auf Verständigung mit der Umwelt einstellt und gleichzeitig auch die arabische Welt sich mit der Idee versöhnt, dass auch eine jüdische Minderheit in der Region leben und einen Staat haben kann.“

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