Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)
Das Projekt des Zionismus war klar. Sicherheit und Souveränität für Juden in einem eigenen Staat. So wie alle anderen Völker einen Staat haben – und zudem gar nicht von Vernichtung bedroht sind, weder 1892, 1939 oder heute. Dieses Versprechen ist zentral für den einzigen Judenstaat:
Leave no one behind.
Das macht jede heutige Ablehnung des Zionismus zu einem antisemitischen Vorgang. Wer Juden verweigert, was allen anderen zugestanden wird, ein eigener Staat und vor allem Sicherheit vor Antisemitismus, der oder die handelt antijüdisch, antisemitisch, antizionistisch. Diese drei Adjektive sind dann deckungsgleich.
Sicher sind nicht alle als pro-palästinensisch bezeichneten Demonstrationen nach dieser Definition antisemitisch, aber doch die allermeisten. Gab es zuletzt Redner*innen auf solchen Events, die sich mit Israel- und Palästinafahne in Deutschland (oder England, Belgien, Frankreich, Slowenien oder in den USA) für die Zweistaatenlösung und explizit für einen jüdischen und demokratischen Staat Israel einsetzten?
Israel kämpft um jede einzelne Staatsbürgerin und jeden einzelnen Staatsbürger, und seien es die sterblichen Überreste von vor vielen Jahren.
Doch jetzt ist das zu Ende. Israel lässt die Geiseln sehenden Auges krepieren.
Die rechtsextreme, national-religiöse bis faschistoide Regierung unter Benjamin Netanyhau, der ja selbst ernannte Faschisten wie Bezalel Smotrich angehören („Israels rechtsextremer Finanzminister bezeichnet sich selbst als ‚faschistischen Homophoben‘, will aber ‚Homosexuelle nicht steinigen‘„, Januar 2023, alle englischen Zitate von CH übersetzt), gibt den Kampf um die vermutlich noch lebenden 20 Geiseln und die 30 sterblichen Überreste bereits durch die Hamas und die Palästinenser im Zuge des präzedenzlosen Massakers vom 7. Oktober 2023 Entführten und Ermordeten auf.
Es geht mit der angekündigten vollständigen oder fast vollständigen Besatzung des Gazastreifens um den geplanten Mord nicht nur an palästinensischen Zivilist*innen, sondern auch um die Hinnahme des Mordes durch die Hamas von den verbliebenen und vermutlich noch lebenden 20 Geiseln, von dem Aufgeben der Überführung der Überreste der 30 bereits Ermordeten nicht zu schweigen.
Ein Op-Ed Kommentar in der Times of Israel von Yuval Yoaz, der zuerst auf Hebräisch in einem anderen Medium erschienen war, betont sogar, dass rechtswissenschaftlich gesehen die drei führenden juristischen Vertreter*innen des Staates, die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, der stellvertretende Generalstaatsanwalt für internationales Recht Gilad Noam und die leitende Militäranwältin der israelischen Armee IDF Yifat Tomer-Yerushalmi, sich schuldig machten, wenn sie nicht gegen offenkundige Kriegsverbrechen Israels aktiv würden. Das könnte dazu führen, dass diese drei bei Auslansbesuchen Haftbefehle vorgelegt bekommen.
Gleichzeitig forderten gestern Zehntausende Demonstrant*innen in Tel Aviv einen Generalstreik angesichts der angedrohten Ausweitung des Gazakrieges. So sprach sich gestern Anat Angrest für einen Generalstreik aus – ihr Sohn Matan ist einer der 20 vermutlich noch lebenden Geiseln der Hamas, des Islamischen Jihad und der Palästinenser.
Am heutigen Sonntag haben jetzt die Angehörigen der Geiseln zu einem Generalstreik in Israel am kommenden Sonntag aufgerufen. Die Times of Israel schreibt:
Der Generalstreik, der bereits von führenden Persönlichkeiten der Opposition unterstützt wird, wird vom sogenannten Oktober-Rat organisiert, der die Familien vertritt, die vom Massaker der Hamas am 7. Oktober betroffen sind.
Er wird allerdings nicht von der mächtigen Gewerkschaft Histadrut unterstützt, nachdem ein Gericht in Tel Aviv ihr im vergangenen Jahr untersagt hatte, einen Streik auszurufen, um die Regierung zu einem Geisel- und Waffenstillstandsabkommen in Gaza zu zwingen, da es die Angelegenheit als politisch und nicht als mit den Arbeitnehmerrechten verbunden einstufte.
Oppositionsführer Yair Lapid unterstützt den landesweiten Streik und twittert, dass die Forderung der Familien der Geiseln, „die Wirtschaft lahmzulegen, gerechtfertigt und würdig ist. Wir werden weiterhin an ihrer Seite stehen.“
Die befreite Geisel Sharon Aloni-Cunio, deren Mann David Cunio noch gefangengehalten wird von der Hamas, sprach gestern ebenfalls in Tel Aviv:
‚Jetzt, wo die ewigen Kriegstreiber uns alle in eine schreckliche Katastrophe treiben, tun sie das ja nicht einmal für die Geiseln – sie sagen laut und deutlich, dass sie bereit sind, die Geiseln zu opfern‘, sagte sie und kritisierte die Entscheidung der Regierung ganz vehement, die Kämpfe auszuweiten und Gaza-Stadt einzunehmen.
Man kann sich die Qualen nicht vorstellen, die all diese Angehörigen und Freund*innen der Geiseln durchmachen. Gibt es noch Wasser zum Trinken für die Geiseln? Kriegen sie überhaupt noch was zu essen? Werden sie geschlagen, gefoltert, sexuell missbraucht, gedemütigt? Wie können sie ohne Tageslicht überleben? Müssen sie gebückt stehen? Können Sie ausgestreckt liegen? Es ist nicht vorstellbar. Einav Zangauker, die bekannteste Stimme der Angehörigen, sagte gestern in Tel Aviv auf der Demo:
‚Eine ganze Gemeinde wird von der Hamas und der israelischen Regierung als Geisel gehalten‘, sagte Einav Zangauker, Mutter der Geisel Matan Zangauker. ‚Was muss getan werden? Das Land muss jetzt zum Stillstand kommen.‘
Und doch muss man sehen, dass es nur Zehntausende waren, gestern, die demonstrierten, nicht die 300.000 allein in Tel Aviv, die noch 2023 gegen die Justizreform oder die Entlassung des Verteidigungsministers Gallant (der mittlerweile per internationalem Haftbefehl ausgeschrieben ist) demonstrierten. Schon damals ging es allerdings nicht um die Besatzungspolitik und die Verbrechen der Siedler im Westjordanland. Und heute scheint die Hungersnot in Gaza sowie die fast völlige Zerstörung der Infrastruktur – bei unglaublicher Hitze! – keine Hunderttausenden (wenigstens bei etwas weniger heißen Temperaturen am späten Abend) auf die Straßen Israels zu bringen.
Das Land ist müde. Erschöpft. Moralisch von dem nie dagewesenen Massaker auf eigenem Boden vom 7. Oktober geschwächt wie nie. Aber diese Schwäche ist seit spätestens 2024 umgeschlagen in eine ziellose Brutalität und ein Töten, das insbesondere Zivilist*innen trifft.
Wenn, wie zitiert, die eigenen juristischen Mechanismen nicht mehr greifen und nicht klar ist, dass Kriegsverbrechen im eigenen Land geahndet werden – dann hat sogar der Internationale Strafgerichtshof (ICC) juristisch womöglich tatsächlich etwas in der Hand:
Der Internationale Strafgerichtshof kann nur dann eingreifen, wenn ein Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, die Ermittlungen ernsthaft durchzuführen und die Täter strafrechtlich zu verfolgen.
Für diese mutwillige Zerstörung jüdischer Souveränität, des Zionismus, jüdischer Ethik und Moral ist vorneweg, weil er die meiste Macht hat, ein Mann persönlich verantwortlich: Benjamin Netanyahu.
Update, 12.08.2025
More universities, 70 local authorities, to support Aug. 17 strike in support of hostages