The Berlin International Center for the Study of Antisemitism

Schlagwort: Zionismus Seite 1 von 2

Massendemo in Jerusalem: „Benjamin Netanyahu als schlimmster Feind des jüdischen Volkes“

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Heute ist Tag 701 seit dem 7. Oktober 2023, als Palästinenser, die Hamas und der Islamische Jihad die schrecklichsten Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Shoah verübten. 1200 Israelis und einige Opfer anderer Nationalität, wurden auf unschilderbare Weise gefoltert und massakriert. Die männlich-muslimische Gewalt gegen Frauen wundert nicht, ist aber in ihrer unfassbaren Brutalität an diesem Tag wirklich kaum in Worte zu fassen.

Viele Muslime, Palästinenser*innen, Araber, Linke, Neonazis und andere feierten, leugneten oder verharmlosten diese antisemitischen Massaker.

Direkt danach sprachen viele dieser Anhänger*innen der antisemitischen Internationale von „Genozid“ – sie meinten nicht die in der Tat auf den Genozid an Juden zielenden Massaker vom Tag zuvor, nein: die Antisemiten aller Länder vom 8. Oktober meinten damit die bloße Existenz des einzigen Judenstaates, Israel. Kuffiyah und Melonen und „From the River to the Sea“ und „Stop the Genocide“ sind ihre Symbole und Parolen.

Die heutigen weltweiten Holocaustverharmlosungen, Täter-Opfer-Umkehrungen und das Geschwätz von „Genozid“ kann man sich quellengesättigt und kritisch eingeordnet in dieser Wikipedia-Tabelle anschauen („Scholarly and expert opinions on the Gaza genocide„).

Dort sind über 550 Forscher*innen, Aktivist*innen oder NGOs und Forschungsverbünde aufgeführt, die sich seit Oktober 2023 bis heute mit „Genozid“ und „Gaza“ beschäftigten, die meisten davon in antisemitischer und Holocaust verharmlosender sowie antizionistischer Motivation und Diktion.

Es werden aber auch viele wissenschaftliche Stimmen zitiert, die sich gegen diese inflationäre Verwendung des Begriffs „Genozid in Gaza“ wenden.

Dass die aktuellen und unerträglichen Kriegsverbrechen Israels in Gaza zu verurteilen sind und sofort aufhören müssen, ist davon völlig unbenommen. Ich habe gezeigt, dass sie nicht das sind, was einen „Genozid“ ausmacht, der in der kritischen Forschung für den Holocaust verwendet wird.

Die Hungerpolitik Israels, das Erschießen von unzähligen Zivilist*innen und unglaublich viele weitere Kriegsverbrechen in diesem mit riesigem Abstand längsten Krieg Israels müssen sofort aufhören.

Schon jetzt sind auf unabsehbare Zeit wahre Bilder von hungernden Kindern und Erwachsenen – auch der Geiseln – mit Israel verbunden und nicht nur mit der Hamas, deren Perfidie und islamofaschistische Theorie und Praxis schon zuvor bekannt war.

Israel wird zum Paria-Staat – und das unter Freunden, unter Staaten wie England, Frankreich oder Deutschland, die nur wirklich Realitätsgestörte als Feinde Israels bezeichnen würden.

Heute nun, am Tag 701 der Geiselnahme von 251 Israelis und anderer, protestieren wieder Zehntausende, ja Hunderttausende in ganz Israel. Diesmal mit einem Schwerpunkt in Jerusalem, weil dort die Regierung sitzt.

Es geht den Demonstrant*innen, die völlig verzweifelt sind und seit vielen Monaten ihre Wut hinausschreien, um das Versagen der israelischen Regierung, das eigene Volk zu schützen und die Geiseln zu retten.

Während die IDF völlig beliebig, ohne konkrete Terrorgefahr, Hochhäuser in Gaza-City sprengt, sind die jüdischen und israelischen Geiseln am Krepieren. Für den Tod sind die Palästinenser, die Hamas und der Islamische Jihad verantwortlich.

Aber es ist auch die israelische Regierung verantwortlich, darum geht es den Demonstrant*innen. Die Times of Israel berichtet:

Vor einer großen Menschenmenge bezeichnet Einav Zangauker, die Mutter des Geisels Matan Zangauker, Premierminister Benjamin Netanjahu als den schlimmsten Feind des jüdischen Volkes.

„Pharao, Haman, sie haben Pogrome gegen uns verübt – aber Du, Benjamin Netanjahu, Du übertriffst sie alle“, sagt Zangauker, die zu den lautstärksten Kritikern des Premierministers gehört.

Zangauker wirft Netanjahu vor, den Krieg in Gaza trotz der Warnungen einiger Mitglieder des israelischen Sicherheitsapparats vor den Gefahren einer solchen Vorgehensweise ausgeweitet zu haben, um den 7. Oktober aus seinem Vermächtnis zu tilgen.

„Dein einziges Vermächtnis ist das Massaker und das Versagen vom 7. Oktober“, sagt sie.

(Übersetzung aus dem Englischen von CH)

Man kann sich den Schmerz und die tagtägliche Angst, seit 701 Tagen, der Angehörigen und Freund*innen der Geiseln nicht vorstellen. Viele haben seit 701 Tagen nicht eine einzige Nacht geschlafen.

Es geht darum, dass Netanyahu jetzt einen „Deal“ einfach nicht beantwortet, obwohl die Hamas einen vorgeschlagen hat, der fast exakt einem vorherigen Vorschlag Israels entspricht.

Die heutigen Demonstrant*innen wie die Hunderttausenden in den Letzten Wochen und die Millionen der letzten Monate, sehen in Netanyahus Politik eine perfide Politik, der es nur um die Verlängerung des Krieges geht, und nicht um den Schutz der eigenen Staatsbürger*innen, geschweigen denn um die Freilassung der letzten Geiseln.

Natürlich gibt es die Oberschlauen, die meinen, die Hamas sei gar nicht das einzige Problem, das Problem seien „die“ Palästinenser an und für sich. Damit wird es nie eine Friedenslösung geben, weil: die Palästinenser sind da.  Ohne ein Ende des natürlich grotesken „Rückkehrrechts“ von niemals in Palästina vertriebenen, weil in Köln, New York City oder Helsinki geborenen Palästinenser*innen, würde es nie eine Lösung geben.

Diese Leute sind fatalistisch und haben immer die gleiche Antwort: es liegt nur und immer schon an den Arabern bzw. den Palästinensern.

Was diese Leute nie verstanden haben: mit Feinden schließt man Friedensverträge, nicht mit Freunden.

Faschos wie Smotrich oder Ben Gvir irritieren diese Leute nicht, auch wenn sie sie nicht mögen. Dass diese Leute aber den Zionismus und das Judentum, das auf der Torah und Gerechtigkeit basiert, nachhaltig beschädigen, wenn nicht zerstören – egal!

Vor diesem Hintergrund ist es so dermaßen realitätsfern, was die Jüdische Allgemeine schreibt oder was ein Ferdinand von Schirach so von sich gibt, so gut er es als Nazi-Nachfahre, der seine Familie zurecht verabscheut, sicher meint („‚Sie werden von mir kein Wort gegen Israel hören'“, stellte von Schirach mehrfach klar“).

Das ist auch gut so. Aber er sollte sich gegen die israelische Regierung wenden, darum geht es.

Also natürlich nicht gegen Israel, klar – aber gegen jene, die gegen Israel sind und das ist vorneweg, so sehen es auch heute wieder die Hunderttausenden Demonstrant*innen: Benjamin Netanyahu.

Gegen diesen Mann muss man politisch aktiv sein und sich gegen ihn äußern, wenn man für Israel ist und gegen Kriegsverbrechen, für die Freilassung der Geiseln.

Er hat womöglich nicht ganz im Blick, was die Angehörigen der Geiseln durchmachen und weigert sich, die israelische Regierung frontal zu kritisieren, wie es notwendig ist.

Denkt er, die Anghörigen würden sich gegen Israel wenden, wenn sie massiv protestieren und nach Hilfe schreien? Sie wenden sich gegen eine kriminelle und rechtsextreme, religiös-messianische Regierung, die weg gehört.

Der Knessetagabgeordnete Gilad Kariv von der neuen Partei Die Demokraten, einem Zusammenschluss linker und mitte-linker Parteien von 2024, war auf der Demonstration und sagte der Times of Israel:

„Die israelische Öffentlichkeit muss auf die Straße gehen, weil Netanjahu nicht das Richtige tun wird. Netanjahu wird nicht von Moral und Gewissen geleitet. Netanjahu ist ein Narzisst und ein Borderline- Psychopath“, erklärte Kariv. „Das Einzige, was Netanjahu bewegen wird, sind eine Million Israelis auf den Straßen und Druck aus den USA.“

Es gibt die Hilferufe von Journalisten aus Israel, die sehen, dass die Proteste in Israel allein, seit Anfang 2024 schlicht gar nichts bringen – sie brauchen massive Unterstützung von Israelfreund*innen weltweit! Darum geht es.

Netanyahu ist für den 7. Oktober hauptverantwortlich auf israelischer Seite, er hat es ermöglicht, dass es soweit kommen konnte, weil er die Warnungen von IDF-Soldatinnen nicht ernst nahm und auch viele weitere Warnungen nicht wahrhaben wollte.

Und weil er die Hamas gegen die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die jetzt von Israel in den Ruin getrieben werden soll, in Stellung brachte.

Ein Untersuchungsausschuss wird das irgendwann einmal alles detailliert aufdecken.

Die Oberschlauen werden gleich wieder kreischen, dass Abbas (PA) doch ein Holocaustleugner sei und so weiter und so fort. Sie sehen nicht, welches Spiel Israel spielt und dass es auf eine Zerstörung der Zweistaatenlösung hinausläuft, die ja die Hamas auch nicht will.

Der ehemalige Chef des Mossad, ein Zionist (die Bibi-Fans werden ihn als Antisemiten entlarven!), Yossi Cohen, fordert den sofortigen Rücktritt von Netanyahu.

Würde es in Deutschland Israelfreund*innen geben, so würden sie zu Zehntausenden, ja Hunderttausenden gegen die Kriegspolitik von Netanyahu demonstrieren, einen „Deal“ fordern, die Rückkehr der Geiseln und das sofortige Ende des Krieges.

Sie würden auch für ein Ende der aktuellen Regierung demonstrieren, gegen Rassismus und Nationalismus sowie die Drohung der israelischen Regierung, in wenigen Wochen fast die gesamte Westbank zu annektieren und somit jeglichen möglichen Frieden mit den Palästinensern, die Zweistaatenlösung, zu zerstören, jedenfalls für unabsehbare Zeit zerstören, wenn nicht für immer.

Und ohne eine solche Zweistaatenlösung hat der einzige Judenstaat keine Chance, weder im Nahen Osten noch weltweit. Netanyahu hat die engsten Partner Israels beleidigt, vor den Kopf gestoßen und direkt oder indirekt als Antisemiten beschimpft, England, Frankreich, Deutschland und auch jene Teile des US-Establishments, das sich jetzt – nicht obwohl, sondern weil sie zionistisch sind im US-Kongress! – gegen die israelische Kriegspolitik ausspricht.

Viki Cohen, die Mutter des von der Hamas als Geisel gehaltenen Nimrod Cohen, betont bei einer Großkundgebung in Jerusalem, dass „ein vollständiges Abkommen auf dem Tisch liegt“, das Netanjahu jedoch nicht unterzeichnen will.

„Es liegt ein vollständiges Abkommen auf dem Tisch, ein Abkommen, das meinen Sohn und alle Geiseln zurückbringen wird“, sagt sie vor der Residenz des Premierministers. „Mein sensibler Junge … Ich habe keine Ahnung, wie er mit dem Höllenfeuer in Gaza zurechtkommt.“

Sie sagt, dass mehrere Familien von Geiseln in der vergangenen Woche Anrufe von Geheimdienstmitarbeitern erhalten hätten, in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass die jüngste Ausweitung der IDF-Operation in Gaza-Stadt ihre Angehörigen in Gefahr bringe.

Bekanntlich sind Forderungen nach „Wandel“ oder „was Neues beginnen“ auch Kennzeichen, ewiges Kennzeichen, kapitalistischer Vergesellschaftung. Es geht immer weiter, bis zur nächsten Krise, zur nächsten Innovation, aber es bleibt immer gleich, dass Menschen wie Waren behandelt werden. Daher ist es kein Zufall, dass auch x-beliebige „Manager“ Bob Dylan hören, neoliberale Verwerter der Welt, die Kulturindustrie frisst alles und alles wird zum Fraß. Es gibt über 500 Cover-Versionen des Liedes.

Aber ich würde es denn mal zur Abwechslung friedenspolitisch und zionistisch rezipieren, es muss Wandel geben, die Demonstrant*innen in Jerusalem, Tel Aviv und ganz Israel von heute zeigen ihn an, jedenfalls viele von ihnen. Netanyahu ist aktuell der „größte Feind des jüdischen Volkes“, so sagte es heute Einav Zangauker, die Stimme des Hostage Forum.

Und auch in der Diaspora müssen die Juden endlich aufwachen, genauso wie die nicht-jüdischen Pro-Israel Aktivist*innen, sie müssen ihren Masada-Komplex bearbeiten und ablegen oder überwinden, so schwer das den meisten auch fällt.

Bob Dylan hat 1964 in Worte gefasst, was die biedere, spießige, realitätsferne deutsche Pro-Israel-Szene bis heute nicht gelernt hat und nie lernen wird:

Come mothers and fathers

Throughout the land

And don’t criticize

What you can’t understand

Your sons and your daughters

Are beyond your command

Your old road is rapidly agin’

Please get out of the new one if you can’t lend your hand

For the times they are a-changing.

Hilferuf aus Israel: „Wir halten es nicht mehr aus“

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Treffen sich zwei alte Bekannte am Bahnhofskiosk in Berlin, Zoologischer Garten, der eine ist Abonnent einer linken Publikumszeitschrift und hatte sie heute schon im Briefkasten gefunden, der andere blätterte grade in ihr rum:

„Eine Hungersnot! Eine Katastrophe! Stell dir das vor. Zwei!, sagt der Abonnent.

Ja, zwei. Von der Hungersnot bedroht, in unterschiedlicher Intensität. Ja, einfach unglaublich. Und alle schauen weg, grade ‚wir Linken‘.

Ganz genau.

Also zwei Millionen.

Hallo? Ich meinte „ZWEI“ – zwei Menschen sind von der Hungersnot bedroht, zwei israelische Geiseln, es gibt doch die schockierenden Videos der Hamas.

Ja, das ist unerträglich, Nazi-style Propaganda dieser Muslim-Faschos. Aber es gibt neben diesen zwei hungernden Geiseln noch zwei Millionen Palästinenser die hungern.

Spinnst du? Die hungern doch nicht, die essen absichtlich zu wenig, damit Israel wieder als der Böse dasteht.

Das meinst du nicht ernst, oder?

Doch.“

Diese Szene hat es heute wirklich in Berlin am Zoologischen Garten gegeben. Es gibt Zeuginnen und Zeugen.

 

Die Verkommenheit der Linken ist seit Jahren mit Händen greifbar. Aber jetzt dieser Realitätsverlust in Bezug auf israelische Kriegsverbrechen. Diese Autoren dünken sich pro-israelisch, dabei schaden sie dem Judenstaat ganz extrem, wenn sie die Propaganda der israelischen Regierung für die Wahrheit nehmen, dass es keine Hungersnot gebe. Oder dass es keine absichtlichen Morde an Zivilist*innen geben würde. Oder dass es keine Siedlergewalt in extremem Ausmaße im Jahr 2025 im Westjordanland gebe. Oder dass es keine Aufrufe der rechtsextremen Regierungsmitglieder für „ethnische Säuberung“ und Wiederbesiedelung Gazas geben würde.

Während laut dem französischen Soziologen Emile Durkheim von 1893 die „mechanische Solidarität“ die traditionelle, ’stammesgebundene‘ vorindustrielle Solidarität meint, ist die „organische Solidarität“ auf der kapitalistischen Arbeitsteilung basierend. Sie meint auch und gerade die Solidarität der Atomisierten, der Fremden, der Arbeitskolleg*innen, die nicht mit einem verwandt sind. Und diese „organische Solidarität“ gebe es in Israel nicht, so die Haaretz-Journalistin Noa Limone am 28. August 2025. Zwar habe es in Israel eine ganz außergewöhnliche und beeindruckende innerisraelische Solidarität nach dem genozidalen Massaker der Muslimfaschisten der Hamas vom 7. Oktober 2023 gegeben. Ärztinnen und Ärzte halfen spontan und kostenlos, Menschen zu versorgen oder zu therapieren, Bürger*innen spendeten Kleider, Nahrung, boten Wohnungen an, es war ein großer Zusammenhalt in Israel spürbar. Doch was ist jetzt mit der Solidarität israelischer Wissenschaftler*innen mit denen in Gaza, wo es dort keine Unis mehr gibt? Wo die Solidarität israelischer Kameramänner oder TV-Journalist*innen mit den von der IDF im Nasser-Krankenhaus vorsätzlich in einem perfiden Doppelschlag ermordeten Kolleg*innen? Noa Simone sieht da keine Solidarität:

Aus dieser Perspektive ist jeder Journalist, Arzt und Professor aus Gaza automatisch ein Terrorist. In Israel triumphiert immer die nationale Identität, wodurch andere Identitäten und Perspektiven marginalisiert und minimiert werden. Deshalb ist die Solidarität in Israel begrenzt. Deshalb ist auch die Zivilgesellschaft, die wir so sehr gelobt haben, nicht wirklich zivil.

(alle Übersetzungen aus dem Englischen in diesem Text von CH)

Wir haben es in Deutschland, dem Land mit der größten Moral und den intelligentesten Autor*innen, grade bei den Linken, überhaupt mit einer Volksgemeinschaft der philosemitischen Antisemiten zu tun, die sich hinter Israelfahnen verstecken und weder Emmanuel Levinas noch Eva Illouz oder die Haaretz je gelesen haben oder heute lesen und diskutieren.

Wir haben es mit Leuten zu tun, die so obsessiv dabei sind, der israelischen Regierung noch jede Lüge zu glauben, dass man sie weder als Journalisten oder Autoren noch als Menschen jemals wieder ernst nehmen kann.

Und trotzdem: Es gibt noch etwas Hoffnung in diesen Zeiten des Niedergangs und der moralischen Abgründe.

Ein Journalist der Haaretz schreibt am 27. August 2025 einen Hilferuf an die Welt und vor allem an Europa. Jene, die Israel liebten, sollten die aktuelle Regierung mit allen Mitteln bekämpfen, das ist die Kernforderung. Es geht dem Autoren, Uri Misgav, nicht um die rein formale Anerkennung eines Staates Palästina, er wendet sich logisch gegen einen BDS-mäßigen Boykott Israels. Misgav ist Zionist. Er ist aber ein Linkszionist und er kann es ethisch, moralisch und persönlich nicht mehr ertragen. Er möchte befreit werden von der rechtsextremen, religiös-faschistoiden Regierung von Benjamin Netanyahu:

Wir brauchen dringend Ihre und eure Hilfe. Wir wurden von einer kriminellen Bande entführt, die unser demokratisches System ausgenutzt hat, um an die Macht zu kommen, und nun versucht, diese Demokratie zugunsten eines tyrannischen Regimes mit faschistischen und ultranationalistischen Zügen zu zerstören. Das ist eine alte und bekannte Geschichte, die sich schon an anderen Orten abgespielt hat. Dieses Mal ist es uns passiert. Wir dachten, wir könnten das alleine bewältigen; es schien sogar, als wären wir auf dem richtigen Weg.

Er erwähnt den U2-Musiker Bono, der für seinen Zionismus und seine scharfe Attacke auf Benjamin Netanyahu legendär ist.

Der in Israel für Skandale, Aufdeckungen, aber auch Fehleinschätzungen bekannte Haaretz-Autor Uri Misgav endet seinen Text mit folgender flehender Bitte, die die paar wenigen linken und liberalen Israelfreunde aufwecken sollten, wenn sie noch einen Restbestand an Menschen- und Zionsliebe in sich tragen sollten:

Deshalb brauchen wir Sie, um einen wirksamen Weg zu finden, den Krieg und diese Regierung zu stoppen. Berufen Sie eine große internationale Konferenz ein, wie es in der Vergangenheit bereits mehrfach geschehen ist, unter der Führung Europas. Es stimmt, dass sowohl wir als auch Sie ein ernstes Problem mit der aktuellen amerikanischen Regierung haben. Versuchen Sie, ohne sie voranzukommen. Machen Sie Europa wieder großartig.

Es besteht keine Notwendigkeit, Tel Aviv zu bombardieren, wie Sie es in Serbien getan haben.

Ein Embargo für Angriffswaffen und die Androhung, die Beziehungen abzubrechen, werden ausreichen.

Bringen Sie einfach Netanjahu und seine verabscheuungswürdigen Gefolgsleute in die Knie und helfen Sie uns, ihn in den Mülleimer der Geschichte zu befördern.

Wir flehen Sie an: Jetzt ist es an der Zeit. Wir halten es nicht mehr aus.

Was jedoch die selbst ernannten Israelfreund*innen in Deutschland am wenigsten leiden können, sind nicht Nazis oder die Hamas, nein, was sie wirklich am allermeisten regelrecht hassen sind Linkszionist*innen aus Israel. Sie hassen die Kritik an Netanyahu. Sie hassen den Realitätsbezug der Kritiker*innen in Israel.

Diese „Israelfreund*innen“ lieben den Realitätsverlust und die staatliche Propaganda aus Jerusalem.

Daher wird auch dieser Hilferuf aus Israel bei diesen Fanatiker*innen nicht gehört werden. Aber der bürgerliche Mainstream, welche Ironie, der könnte dafür offen sein. Vorneweg ein Mann, der Israel retten möchte: der französische Präsident Macron, womit sich die Haaretz die letzten Tage intensiv beschäftigt hat.

Was die Linken in Israel gelernt haben, haben die strunzdeutschen Linken nie verstanden: Der Feind steht im eigenen Land. Wenn das in jedem bestehenden Land erkannt wird, dann kommt die Revolution.

Der Masada-Komplex

 

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Michael Schiffer arbeitete bis vor kurzem für die US Organisation USAID, zuvor war er auch im US-Verteidigungsministerium sowie als Mitarbeiter im US Senate Foreign Relations Committee beschäftigt.

Schiffer ist ein amerikanischer Jude.

Er ist ein Zionist und hat sich sein ganzes Leben für Israel eingesetzt.

Jetzt rechnet er ab.

Mit sich selbst. Mit den amerikanischen Juden. Mit dem Israel unter Netanyahu. Mit mir. Mit dir. Mit Ihnen. Mit ‚uns‘.

Mit der Pro-Israel-Szene.

Innehalten.

In seinem Text auf der Times of Israel (TOI) am 25. August 2025, der von der Redaktion der TOI als „featured“ Artikel hervorgehoben und in zwei Tagen über 200 Mal kommentiert wurde, schreibt Schiffer Folgendes:

Als amerikanischer Jude und ehemaliger US-Sicherheitsbeamter habe ich mein ganzes Erwachsenenleben damit verbracht, mich mit der komplexen Beziehung zwischen meiner jüdischen Identität, meinen amerikanischen Werten und meiner Unterstützung für Israel auseinanderzusetzen.

Wie viele meiner Generation wuchs ich mit Geschichten über den Holocaust und das Wunder der Wiedergeburt Israels auf, lernte die Notwendigkeit der jüdischen Selbstbestimmung kennen und wurde gelehrt, dass Israel die besten jüdischen Werte verkörpert, die in einem modernen demokratischen Staat zum Ausdruck kommen. Dieser Glaube ist nun zerbrochen.

(Alle Übersetzungen in diesem Text von CH)

Sein Beitrag hat eine intellektuelle, moralische wie jüdische analytische Tiefe, die man bei nahezu keiner jüdischen zionistischen Autorin, keinem jüdischen zionistischen Autoren in Deutschland und schon gar nicht bei den nicht-jüdischen ach-so-dermaßen-pro-israelischen deutschen und sonstigen Aktivist*innen oder gar Wissenschaftler*innen finden kann.

Denn Schiffer sagt:

Die Folgen dieser Sicht der Dinge sind nun für alle in Gaza sichtbar. Was als legitime Reaktion auf die schrecklichen Angriffe der Hamas vom 7. Oktober begann, hat sich zu etwas entwickelt, das gegen alle ethischen Grundsätze verstößt, die dem Judentum heilig sind. Ganze Stadtteile wurden ausgelöscht. Familien hungern, während Lebensmittel-Lkw an den Grenzen warten. Kinder sterben an vermeidbaren Krankheiten, weil Lebensmittel und Medikamente als Waffen eingesetzt werden. Die Bilder, die jeden Tag über unsere Bildschirme flimmern, zeigen nicht nur eine humanitäre Katastrophe, sondern einen moralischen Zusammenbruch, der jeden erschrecken sollte, der behauptet, im Namen jüdischer Werte zu sprechen.

Selbstverständlich ist es sehr gut, wenn Menschen pro-israelisch aktiv sind. Wenn sie nicht unpolitisch dahinleben, sich nur um Konsum und Familie oder Familie und Konsum oder Alleinsein und Konsum, die günstigsten Flugtickets oder das beste Biobrot oder Pärchen-Urlaube und Konsum kümmern, sondern sich einmischen. Demokratisch aktiv sind, sich sowohl gegen Nazis wehren als auch gegen die arabischen und türkischen Antisemiten in den Kiezen von Berlin, wo man selbst eh nicht mehr leben möchte.

Es ist sehr gut wenn Menschen sich gegen Judenhass und Antisemitismus einmischen. Daher gibt es seit ca. 2000/2002 eine neue Pro-Israel-Szene in Deutschland, vorangetrieben von den Antideutschen. Doch auch Liberale, Bürgerliche und zunehmend Konservative mischen seit Jahren in dieser Szene mit. Sie hat erreicht, dass der Bundestag 2019 die antisemitische BDS-Bewegung als antisemitisch deklarierte.

Sie hat einige Preisverleihungen an antiisraelische Agitator*innen verhindert oder gestört. Diese Szene hat ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Israel aktiv unterstützt werden muss und dass Zionismus Selbstbestimmung und Souveränität bedeutet. Sie haben den linken und muslimischen Antisemitismus seit dem 11. September 2001 klar erkannt und dazu Bücher publiziert, Vorträge gehalten, Demonstrationen und Kundgebungen gemacht, Texte publiziert und Diskussionen entfacht, im bürgerlichen Feuilleton wie in linken Medien.

Viele haben den postkolonialen Antisemitismus decodiert, andere auch den neu-rechten Antisemitismus attackiert und manche gar Holocaustverharmlosung zum Thema gemacht, auch wenn das nur marginal vorkam, da man sich dann ja auch mit dem Antisemitismus in der Ukraine und den Pro-Holocausttäter-Denkmälern dort befassen müsste, und das will diese Pro-Israel-Szene nicht.

Aber unterm Strich hat sie sich zumindest mit dem antizionistischen Antisemitismus intensiv befasst, diese Szene. Seit ca. 25 Jahren.

Und ich war ein Teil davon. Und wir haben alle Schuld auf uns geladen, weil wir zu oft und die meisten immer geschwiegen haben, wenn es um den Masada-Komplex ging.

Mit Sexismus oder Trump hatten nur Teile dieser Szene je ein Problem, mit Holocaustverharmlosung, wenn sie aus Litauen oder der tschechischen Republik oder der Ukraine kommt, hatte diese Szene von Anfang an ohnehin kaum Probleme.

Dann kam auch noch Corona dazu und die Szene feierte die menschenfeindliche, medizinisch katastrophale, nicht evidenzbasierte, irrationale Coronapolitik und den Pandemic Turn der Regierungen Merkel und Scholz. Jeder selbst denkende Epidemiologe und jede Kritikerin wurden als Schwurbler, Nazi oder Antisemit öffentlich auf dem Marktplatz der a-sozialen Medien, im Radio, TV, Supermarkt oder auf der Straße öffentlich gesteinigt.

Dann kam der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Anstatt die Friedensangebote des autokratischen Herrschers Putin von Dezember 2021 zu diskutieren und sich zu verpflichten, dass wenigstens die Ukraine kein NATO-Mitglied wird, nachdem der Westen schon mit der Mitgliedschaft nahezu aller anderen osteuropäischen Staaten sein Versprechen von Februar 1990 gebrochen hatte, „not one inch“ würde sich die NATO gen Osten ausbreiten, wenn sich DDR und BRD zusammentäten (wie auch immer das geschehen würde), feierten gerade die Deutschen die Hetze gegen Russland.

27 Millionen tote Sowjetbürger und Russen im Zweiten Weltkrieg durch Nazi-Deutschland?

Historische Verantwortung der Deutschen gegenüber Russland? Lachhaft!

Peanuts verglichen mit den wunderschönen Denkmälern für Holocausttäter, die es in der Ukraine gibt – kleiner zwar, aber doch schöner noch als das Denkmal für ‚unseren‘ Nationalisten und völkischen Patron Hermann den Cherusker in Detmold/Bielefeld.

So handelten und agitierten sie von der ARD und dem ZDF über die CDU, CSU, FDP, SPD, Olaf Scholz hin zu den Grünen. Fast 100 Prozent der Israelszene waren stramm für die arme Ukraine, nutzten das Bild von Selenskyii als Profilbild bei Facebook oder X und schmückten sich auf Instagram, TikTok oder am WG-Fenster oder im Fenster der schicken Altbauwohnung mit Dachterrasse mit einer kleinen Ukrainefahne und wollten keine politikwissenschaftlichen, diplomatiegeschichtlichen oder ideologiekritischen Seminare mehr hören. Waffen für die Ukraine. „Zeitenwende“. „Sondervermögen“ für die Bundeswehr, 100 Milliarden und in Zukunft bis zu 30 Prozent des Bundeshaushalts für das Kriegsministerium!

Das ist Militarismus, wie wir ihn seit 1945 nicht mehr schreien hörten im Parlament und auf den Kasernenhöfen und in den Talkshows, die damals noch anders hießen. Alles für unsere ukrainischen Freundinnen und Freunde. Und vor allem für die geschundene deutsche Seele seit 1945. Jetzt erst können wir wirklich frei sein und uns an „dem“ Russen rächen. Endlich. Was für eine Zeit!

Das entschuldigt Putin nicht. Aber es setzt Kontexte.

Und hätte die Ukraine wenigstens einmal auf die Kritiker*innen gehört, hätte sie Hunderttausende Tote weniger und nahezu keinen Gebietsverlust (bis auf die Krim), da bekanntlich im April 2022 ein solcher Friedensschluss auf dem Tisch lag und alle dafür waren, Putin, Selenskyii, nur der antikommunistisch-kapitalistische Hetzer Boris Johnson aus England, Panzer-Toni und vor allem fast die gesamte politische Elite in Deutschland – aber zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit der Bevölkerung – wollten das nicht und so geht der Krieg bis heute weiter.

Aber immerhin war die Pro-Israel-Szene weiterhin für Israel, wenigstens etwas. Immerhin.

Denn immerhin setzt die Kritik am Antisemitismus auch jenen Stolzdeutschen ein Stoppschild vor die völkische Nase, die jetzt wieder nassforsch fordern, Israel zu kritisieren, würde „uns Deutsche“ doch erst so richtig frei machen, noch freier als das Schießen auf Russen – weil die sechs Millionen toten Juden „uns“ doch immer noch daran hinderten, auch Juden zu kritisieren.

Doch der Umkehrschluss ist fatal: nur weil Antisemiten sich befreit fühlen, wenn es aus Deutschland kritische Worte an den tatsächlichen Freund Israel gibt – und kein rationaler Mensch wird der aktuellen oder einer der paar letzten Bundesregierungen wirklich Israelhass vorwerfen wollen – darf das nicht heißen, auch aus zionistischer Sicht endlich lautstarke Kritik zu üben.

Und darum geht es Michael Schiffer. Er kritisiert Israel ja aus der Sicht eines amerikanisch-zionistischen Juden.

Was ist nun der Masada-Komplex? Michael Schiffer analysiert ihn:

Der Krieg in Gaza hat etwas zutiefst Beunruhigendes offenbart, was aus Israel unter der Führung von Benjamin Netanjahu geworden ist – und was amerikanische Juden wie ich durch jahrzehntelange reflexartige Unterstützung und vorsätzliche Blindheit ermöglicht haben. Was wir derzeit erleben, ist nicht nur eine fehlgeschlagene Militäraktion, sondern der Triumph einer destruktiven Mythologie, des Masada-Komplexes: eine Belagerungsmentalität, die das Opferdasein verherrlicht, Selbstzerstörung als Heldentum heiligt und jede Herausforderung in einen existenziellen Kampf verwandelt, der jede Reaktion rechtfertigt, egal wie moralisch verwerflich sie auch sein mag.

Und folgende Selbstreflexion von Schiffer ist in Deutschland wirklich von nahezu keinen Pro-Israel Aktivist*innen zu hören, zu einer solchen Selbstkritik und Introspektion sind sie hierzulande einfach nicht in der Lage:

Die amerikanischen Juden tragen eine besondere Verantwortung für diese Katastrophe. Seit Jahrzehnten unterstützen wir die Politik Israels, während wir uns selbst von ihren Folgen abschirmen. Wir haben Israels Erfolge gefeiert und seine Misserfolge ignoriert, Milliarden für die Aufrechterhaltung der Siedlungen gespendet, während wir behaupteten, nichts von deren Zweck zu wissen, und reflexartig Handlungen verteidigt, die wir verurteilen würden, wenn sie von einer anderen Nation unternommen würden.

Diese Mitschuld wurde durch unsere eigene Version des Masada-Komplexes ermöglicht, einer Mythologie, die jede Kritik an Israel als Untreue gegenüber dem Überleben der Juden, jeden Ausdruck palästinensischer Menschlichkeit als Verrat am Leid der Juden und jeden Ruf nach Gerechtigkeit als Einladung zu einem weiteren Holocaust darstellt. Wir haben zugelassen, dass aus einem Trauma eine Doktrin wurde, und die Lehren aus dem Leiden der Juden zur Rechtfertigung für die Unterdrückung der Palästinenser gemacht.

Man muss sich nicht beruflich mit der Philosophie von Emmanuel Levinas beschäftigt haben, um wenigstens zu erahnen, was für schreckliche Folgen diese jahrzehntelange Politik dieser ‚Engagierten‘ für Israel für das Judentum und die jüdische Ethik und für den Zionismus hat:

Dies stellt einen tiefgreifenden Verrat an den jüdischen ethischen Lehren dar. Uns wird geboten, „rachamim b’nei rachamim” zu sein – mitfühlende Kinder mitfühlender Vorfahren. Uns wird gelehrt, dass die Rettung eines einzigen Lebens der Rettung der ganzen Welt gleichkommt. Von unseren Weisen lernen wir, dass „es der Weg der Tora ist, sogar unsere Feinde zu ernähren, wenn sie hungrig sind”. Und die Lehren aus dem Holocaust, aus „Nie wieder”, müssen in den größeren Zusammenhang der Lehre von Rabbi Hillel und seiner zweiten berühmten Frage gestellt werden: „Wenn ich nur für mich selbst da bin, wer bin ich dann?” Doch Israel verstößt heute systematisch gegen jeden dieser Grundsätze, begeht Kriegsverbrechen und verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht, während es behauptet, in unserem Namen zu handeln.

Deshalb muss dieser Krieg jetzt enden. Die Geiseln müssen sofort freikommen. Die Hamas darf keine politische Rolle mehr spielen, aber zu glauben, man könne sie komplett als Guerilla ausschalten, ist völlig aberwitzig und absurd. Das weiß auch die IDF-Führung, wenn sie ehrlich ist.

Es geht aber um viel mehr, wie Michael Schiffer in seinem herausragenden Text betont. Es geht auch um die Siedlungspolitik im Westjordanland, um öffentliche Aufrufe zur „ethnischen Säuberung“, die weder in den USA noch in Deutschland Schockwellen unter Israelfreunden verursachen, sondern Schulterzucken. Und das seit wenigstens 25 Jahren, wo es in Deutschland diese neue und hörbare Israelsolidarität gibt.

Der Masada-Komplex ist wirklich überall zu sehen, seit vielen Jahren.

Da werden zurecht antizionistische Hetzer*innen kritisiert, aber niemals auch anders gelagerte, aber ebenso bekämpfenswerte Tendenzen wie jüdisch-religiöse Fanatiker*innen oder rechtsextreme Politiker Israel in den Blick genommen.

Die meisten glauben wirklich – und viele mit tatsächlich gutem Gewissen oder aus Naivität – dass es doch pro-israelisch genug ist, sich für Israel einzusetzen, mit Städtepartnerschaften oder Austauschprogrammen, Anstecknadeln, Schals, Kettelchen oder Texten, Kundgebungen und Stickern, Aufklebern, Memes und so weiter. Sie merken nicht, dass ohne eine Kritik am israelischen Rechtsextremismus, der IDF-Kriegsführung und religiösen Fanatismus und der Kritik an den offenkundigen Kriegsverbrechen in Gaza kein Frieden jemals kommen wird. Es liegt nicht nur an den Islamfaschisten der Hamas. Punkt.

Diese Leute aus der Israelszene erkennen oftmals noch nicht einmal, was es bedeutet, dass die arabischen Staaten jetzt die Hamas loswerden wollen, ganz ernsthaft und erstmals und den 7. Oktober verurteilt haben. Und was macht Israel? Es weitet den Krieg aus, lässt die Geiseln im Stich und siedelt weiter obsessiv im Westjordanland, das sehr viele genüßlich als Judäa und Samaria bezeichnen, auch säkulare Spinner, die gar nicht merken, wie antiisraelisch das ist.

Es gibt eine riesige Anzahl von Antisemiten in diesem Land. Aktivist*innen, die Israel auslöschen wollen und am 7. Oktober gefeiert oder geschwiegen haben. Wir haben alle Bekannte, Freund*innen, Arbeitskolleg*innen verloren, also jene, die wir eventuell noch nicht während Corona und nicht während dem Ukraine-Krieg verloren hatten, sprich: von den sehr wenigen, die noch da waren, sind noch weniger übrig geblieben.

Viele, die gegen die Corona-Maßnahmen waren, haben sich als Antisemiten gezeigt. Viele, die für eine diplomatische Lösung des Ukraine-Krieges sind, finden eine Einstaatenlösung für Israel super.

Aber selbst wenn wir ignorieren, dass weiteste Teile der Israelszene geistig, polisch und menschlich während Corona und während dem Ukraine-Krieg völlig versagt haben, bleibt jetzt nicht einmal mehr die herkömmliche Israelsolidarität übrig.

Daher gilt es den Text von Michael Schiffer, der sicher für sehr viele zumindest amerikanisch-jüdisch-zionistische Juden sprechen dürfte, wahrzunehmen, ihn ernstzunehmen und zu diskutieren.

Denn jetzt so zu tun, wie es Netanyahu und alle seine Fans in Deutschland oder USA tun, als ob alle pro-israelischen westlichen Regierung von Paris über London bis Rom und Canberra antisemitisch seien, das ist absurd und indiziert mal wieder einen Realitätsverlust.

Es zeigt zudem und das ist dramatisch, dass Israel und seine „Fans“ wirklich überhaupt nicht verstanden haben, was auf dem Spiel steht.

Michael Schiffer, der sein Leben dem Zionismus und der Unterstützung Israel gewidmet hat, sieht diese Abgründe:

Israel steht am Rande eines Abgrunds, und die amerikanischen Juden stehen ihm zur Seite. Die Frage ist, ob wir endlich den Mut finden werden, uns vom Abgrund zurückzuziehen, oder ob wir der Logik von Masada bis zu ihrem unvermeidlichen Ende folgen werden: einem Mord-Selbstmord-Pakt im Namen eines hohlen Sieges.

Ein Staat Palästina ist eben leider die Basis dafür, dass Israel in Frieden leben könnte. Es wäre ein Staat ohne Panzer und Armee und natürlich wäre es besser, es gäbe kein islam-faschistisches Regime im Iran, das im Zweifelsfall versuchen könnte, einen Staat Palästina aufzurüsten. Aber das ist seit 25 Jahren und noch länger klar.

Israel hatte auch Zeit, Zeichen zu geben für eine Annäherung an die Palästinenser bei gleichzeitigem Kampf gegen Teheran. Doch Israel hat Siedlungen gebaut und möchte weiter bauen, E1 reicht als Stichwort. Es möchte Gaza wieder besiedeln.

All das muss kritisiert und nicht nur mit der vorschnellen (vorschnell? Nach fast 60 Jahren Besatzung? hm… ) Anerkennung Palästinas durch Frankreich und England und andere im September 2025 bei den Vereinten Nationen umgegangen werden. Aber nur auf diese Anerkennung zu schauen und laut „nein“ zu schreien, ohne Israels Politik ganz grundsätzlich der letzten 25 Jahre zu hinterfragen in vielen Aspekten – und das gerade aus zionistischer Perspektive, das ist doch die Pointe – das ist zu billig, zu einfach, zu kurz gedacht, zu reduktionistisch und es ist gefährlich.

Das ist der Masada-Komplex. Wir sind umzingelt und lieber töten wir uns alle selbst, bevor wir in Verhandlungen gehen oder Fehler zugestehen, Kompromisse suchen.

Das meint meines Erachtens Michael Schiffer.

Wann soll denn der Prozesse der Staatenbildung einsetzen, nach bald 60 Jahren Besatzung? Die oberschlauen und de facto Israelfeinde kreischen dann sofort, dass es noch nie einen Staat Palästina gegeben habe. So what? Es gibt eine UN-Resolution an die sich Israel halten wollte, offiziell. Und die besagt, einen arabischen (=palästinensischen) und einen jüdischen Staat.

Millionen Israelis wollen Netanyahu weg haben, den Krieg beenden und alle Geiseln frei haben. Und das gleichzeitig. Zehntausende, manchmal auch Hunderttausende demonstrieren dafür jede Woche und mitunter alle paar Tage im ganzen Land. Ein kleiner Teil davon demonstriert auch dagegen, mit Hunger Krieg zu führen wie es Israel tut.

Die IDF hat nicht unabsichtlich jetzt dieses Krankenhaus beschossen und 5 Journalist*innen ermordet.

Das war kein Zufall. Wer Zeugenberichte der letzten Monate von IDF-Soldaten gelesen hat, weiß das.

Die deutsche Israel-Szene weiß es nicht und diffamiert jeden, der es ausspricht, als Verräter oder Antisemiten. So einfach ist deren Welt. Es ist ein obsessiver Philosemitismus, der viel vom Fanatismus des Antisemitismus hat, nur vordergründig anders gepolt. Am Ende führen beiden zum Ende des einzigen Judenstaates.

Aber all das wollen sie nicht hören.

Die Worte von Michael Schiffer aus den USA werden in Deutschland ignoriert werden, so wie jede substantielle zionistische Kritik an Netanyahu verhallte und weiter verhallen wird.

So lange, bis Israel, moralisch hoch erhoben und ohne einen einzigen Freund, Masada spielen wird, wie die Pro-Israel-Szene in Deutschland und weltweit. Helden, aber tot.

Schiffer resümiert:

Die Entscheidung, vor der wir stehen, ist klar: Wir können den Weg der moralischen Mitschuld weitergehen und zusehen, wie Israel sich selbst zerstört und die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Juden mit sich reißt, oder wir können uns auf die prophetische Tradition besinnen, die Gerechtigkeit fordert, auch wenn – oder gerade wenn – sie die Macht herausfordert.

 

 

 

Benjamin Netanyahus rechtsextreme Politik tötet Palästinenser und den Zionismus

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Die islamistische Terrororganisation Hamas hatte das Ziel, dass Israel nach dem schrecklichsten Massaker an Juden seit der Shoah vom 7. Oktober 2023 unverhältnismäßig zurückschlägt und sich somit international vollständig isoliert. Aber dass Israel der Hamas diesen Gefallen auf diese exzessive und blutige wie selbstmörderische Art und Weise machen würde, das hätten wohl nicht mal die mittlerweile eliminierten Hamasführer gedacht.

Israel betreibt eine völkerrechtswidrige Hungerpolitik, die Tausende, womöglich Zehntausende oder Hunderttausende der zwei Millionen Palästinenser*innen im Gazastreifen offenkundig an den Rand des Hungertods bringt. Jene, die noch Kraft haben, bei unerträglicher Hitze, kaum Wasser und Nahrung, sich ein Nahrungspaket zu sichern, laufen tagtäglich Gefahr, von IDF-Soldaten eiskalt oder in Panik, jedenfalls kriminell und völkerrechtswidrig erschossen zu werden. Der faschistische Minister und Koalitionspartner von Netanyahu, Smotrich, möchte den Gazastreifen zu einem Teil Israels machen.

Es müsste hingegen um eine Demokratie- und Anti-Islamismuspolitik in Gaza gehen – aber dazu sind die Faschisten und der obsessive Machtpolitiker und Narzisst Netanyahu selbst natürlich nicht in der Lage – wie auch? Sie wollen Israel auch im Innern zerstören, warum sollten sie für Demokratie in Gaza werben?

Es wurden, so berichten es IDF-Soldaten, Häuser einfach so zerstört – und zwar ein Großteil aller Häuser im Gazastreifen, der fast komplett unbewohnbar ist, die Flüchtlinge leben in Zelten oder Ruinen. Ob es überhaupt noch lebende Geiseln gibt, ist ungewiss. 20 israelische Geiseln lebten vor einigen Monaten vermutlich noch – aber jetzt?

Schon Ende Juni berichteten IDF-Soldaten in der Haaretz, dass sie wahllos auf Essen wartende Palästinenser schießen, teils auf Befehl. Das war schon zuvor so, weshalb 2024 auch viele, die anfangs für den Krieg waren, ihn lernten abzulehnen.

Wirklich kritische und hellsichtige Menschen wie der Zionist Irvin Cotler, ich habe über ihn berichtet, hatten von Anfang an die Hoffnung, dass Israel nach dem 7. Oktober diplomatisch geschickt agiert und den Iran weltpolitisch isoliert wie seine Proxies Hamas, Hisbollah, Houthis. Aber das Gegenteil passierte, Israel hat zwar die Führungskräfte der Hisbollah und der Hamas getötet und das iranische Atomprogramm angegriffen, aber vermutlich den Kern, auf 60 Prozent angereichertes Uran, wovon es ca. 400 kg im Iran gab, nicht getroffen. Und selbst wenn, es muss um ein Ende des iranischen Regimes gehen, was nur politisch erreicht werden kann – und mit einer Revolution im Iran.

Diplomatisch bekam Israel im Oktober 2023 enorm viel Unterstützung, nicht nur von den USA und England, sondern selbst von Deutschland und Frankreich sowie der EU. Aber der Rechtsextremismus von Netanyahu hat den Ausschlag gegeben, dass er die Geiseln als absolut tertiär für seine Politik betrachtet und die Fortführung seiner Koalition mit Faschisten wie Smotrich oder Ben Gvir hat Priorität.

Ist es nicht ein Wink für Psychoanalytiker*innen, dass Netanyahu vor wenigen Tagen eine Lebensmittelvergiftung hatte – während sie in Gaza an Hunger sterben? Hat sein Körper womöglich mehr Moral oder Ethik als er selbst? Er wird das gar nicht merken in seinem ich-verliebten Wahnsinn und seiner Terrorpolitik im Innern wie nach Außen, in Gaza wie im Westjordanland sowie gegen die Justiz in Israel. Von Arbeiter*innenrechten oder einer Sozialpolitik oder wenigstens dem leichten Einhegen der kapitalistischen Barbarei kann man ja in Zeiten des Turbo-Kapitalismus ohnehin seit Jahrzehnten nicht mehr reden, gerade auch in Israel nicht, so wenig wie in Deutschland oder den USA.

Es geht um alles. Es geht um das Töten von Palästinenser*innen und um das Ende des Zionismus.

Zionismus heißt zwei Staaten für zwei Völker.

Jüdische Faschisten wie Smotrich wollen das nicht und er hat viele Israelis hinter sich. Wären die Israelis so schockiert wie 1982, als christliche Milizen in Sabra und Schatila im Libanon bis zu 3000 Palästinenser*innen massakrierten und die israelische Besatzungmacht nur zuschaute? Damals demonstrierten sofort 350.000 Isarelis in Tel Aviv gegen diese Zulassen eines Massakers an Palästinenser*innen durch Israel.

Und heute? Heute ist Israel selbst an Massakern beteiligt, wie es ausschaut – wenn wir das Erschießen von bis zu 1000 Menschen in Gaza betrachten, die vermutlich großteils von Israel beim Warten auf Essen einfach erschossen wurden, weil ggf. junge IDF-Soldaten Panik vor Tausenden heranstürmenden, aber unbewaffneten und vor allem nur Essen suchenden Palästinensern hatten und einfach auf wehrlose Menschen schießen. Ethik bei der IDF? Das war gestern – oder vorvorgestern. Wobei, klar, das Wort Ethik und Militär ohnehin Widersprüche sind. Aber leider braucht Israel eine Armee, weil die Nachbarstaaten widerwärtige arabische Länder sind, die den einzigen Judenstaat seit 1948 zerstören wollen.

Die Tageszeitung Die Welt schreibt am 23. Juli 2025:

Auch der amerikanisch-palästinensische Analyst Ahmed Fouad Alkhatib vom Atlantic Council, der regelmäßig mit Menschen in Gaza spricht, berichtet von Wut und Protesten der Menschen gegen die Hamas. Gleichzeitig bezeichnet Alkhatib das von Israel neu eingerichtete Hilfssystem als gescheitert. „Der Hunger ist so schlimm wie nie zuvor“, sagt Alkhatib. Die Menschen wollten nur noch eines: „den Gaza-Streifen verlassen“.

Ein Scharfmacher der Jüdischen Allgemeinen und Vorsitzender des Landesverbandes jüdischer Gemeinden in Hessen, Daniel Neumann, hingegen schreibt:

So viele zivile Opfer wie möglich helfen dabei nur. Weshalb palästinensische Mitarbeiter der GHF [Gaza Humanitarian Foundation, CH] ermordet werden, Todeszahlen aufgebläht werden und durch bewaffnete Terroristen Chaos im Umfeld der Verteilstellen gestiftet wird. Denn auch hier gilt: Jeder tote Palästinenser, über den in den Medien berichtet wird, nützt der Hamas und schadet Israel. …
Die Hamas muss endgültig zerstört werden. Ihre Strukturen müssen zerschlagen werden. Und ihr Zangengriff muss aufgebrochen werden. Ein für alle Mal. Wenn Israel etwas aus der Geschichte gelernt hat, wenn es etwas aus dem 7. Oktober gelernt hat, dann gibt es nur eine Entscheidung. Eine schlechte Entscheidung. Aber eine richtige Entscheidung!

Schockiert über das Verhalten Israels scheint die Jüdische Allgemeine und mit ihr weite Teile der selbst ernannten Pro-Israel-Szene in Deutschland nicht zu sein. Die Welt schreibt:

Allerdings gibt es viele von Forensikern als glaubwürdig eingestufte Berichte, dass die meisten Zivilisten durch israelische Kugeln starben. Die Zeitung „Haaretz“ berichtete, dass IDF-Kommandeure den Beschuss von Menschenmengen mit scharfer Munition unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt hätten.

Der Journalist und Herausgeber der Times of Israel, David Horovitz, ist schockiert ob der Verhungerten in Gaza – für die Israel verantwortlich ist. Wenn eine Armee selbst von sich sagt, 75 Prozent des Gazastreifens zu kontrollieren, ist sie auch verantwortlich, was dort passiert. Und zwar zu 100 Prozent verantwortlich, jeder Verhungerte ist ein Opfer Israels. David Horovitz sieht entgegen der Jüdischen Allgemeinen, die sich de facto der rechtsextremen Regierung Israels anschmiegt, Israel in der Verantwortung, ja die aktuelle Politik von Netanyahu hat Israel so stark isoliert wie noch in der Geschichte Israels:

Israel, das selbst innenpolitisch völlig gespalten ist, ist dabei, die meisten seiner engsten Verbündeten zu entfremden, während die große Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit verzweifelt ein Ende des Krieges im Austausch für die Freilassung aller Geiseln fordert. (Übersetzung CH)

Das ist nichts anderes als das exakte Gegenteil zur Jüdischen Allgemeinen. Die Times of Israel fordert damit auch einen sofortigen Waffenstillstand.

Der israelische Präsident Herzog hat bei seinem ersten Besuch in Gaza seit dem 7. Oktober jetzt gezeigt, dass er keinerlei Kritik an der mörderischen Politik der IDF hat, ja er lobt die IDF für ihr angeblich jetzt besseres Kommunikationsverhalten und die Aufnahme einiger weniger ultraorthodoxer Soldaten. Kein Wort zur offenkundigen Hungersnot, von der ja auch zionistische Medien wie die Haaretz oder die Times of Israel oder auch die Welt in Deutschland berichten.

Der aktuell extrem aggressive Antisemitismus weltweit basiert darauf, dass viele das Massaker an Jüdinnen und Juden vom 7. Oktober gefeiert oder verharmlost haben.

Doch im Laufe des Krieges Israels in Gaza, der ohne jedes Ziel ist – außer der Tötung von Palästinenern und einer unglaublichen Hungerpolitik fällt diesen Fanatikern nichts ein – wird es für zionistische Freund*innen Israels zunehmend unmöglich, Israels Politik zu verteidigen – abgesehen davon, dass es eben auch ein rechtsextremes Israel geben müssen darf, ohne mit Vernichtung bedroht zu werden – wir drohen ja auch nicht Italien mit Vernichtung, ’nur‘ weil eine Faschistin oder Post-Faschistin Regierungschefin ist, was auch für Ungarn oder die USA zutrifft. Aber was ist das für ein Argument …

Die taz schreibt:

Es ist nicht kompliziert. Wenn Unschuldige tausendfach sterben, wenn Kinder verhungern, wenn israelische Geiseln in Kerkern sitzen, muss die Antwort heißen: Dieser Krieg muss enden, jetzt.

Wenn Kranke und Verletzte nicht versorgt werden, wenn Ärzte angegriffen werden, wenn Menschen auf der Suche nach Essen erschossen werden, muss es heißen: Dieser Krieg muss enden, jetzt.

Doch wer auch nur einen kleinen Restbestand an Moral und Ethik hat, fordert jetzt einen sofortigen Waffenstillstand und eine Freilassung aller Geiseln und ein Ende der unfassbar völkerrechtswidrigen und zynischen Zurückhaltung und Nicht-Verteilung von Nahrung durch die israelische Armee.

Hat der militärische und mit Hunger Menschen in die Verzweiflung treibende „Druck“ Israels zur Befreiung der Geiseln geführst? Von wegen. Er wird zum Tod der Geiseln führen, die ja bekanntlich schon im April 2024 alle freikommen hätten können – doch der Faschist Smotrich hat Netanyahu gedroht, die Koalition platzen zu lassen und Netanyahu spurte sofort.

Mehr noch: Eine Guerilla-Terrorgruppe wie die Hamas kann man nicht komplett eliminieren. Sie ist tief in der Gesellschaft verankert, doch es gibt massenhaft Hinweise, dass die Bevölkerung in immer größeren Teilen die Hamas ablehnt, davon berichtet auch der oben zitiert Welt-Text.

Auch die israelische Friedensaktivistin Rotem Sivan, die vor 30 Jahren selbst als IDF_Soldatin in Gaza war und weiß, wovon sie spricht, ist unendlich näher dran an der Realität als die Jüdische Allgemeine. In einem Interview mit dem Tagesspiegel sagte sie vor wenigen Tagen:

Sie haben den Krieg ursprünglich unterstützt, weil Israel sich nach dem 7. Oktober gegen die Hamas verteidigen musste?
Zu Beginn des Krieges bestand die Aufgabe darin, die Geiseln zurückzubringen, die Sicherheit Israels wiederherzustellen. Als mein Sohn später als Reservist in die Armee zurückkehrte, war es schon eine völlig andere Mission. Jetzt ist das Einzige, was die Armee tut, Häuser zu zerstören. Eines nach dem anderen.

Der schockierende, aber so typische extrem rechte Text aus der Jüdischen Allgemeinen hat keinen näheren Einblick in die Situation in Israel, das merkt man beim Lesen – denn alle Waffenstillstandsforderungen beinhalten immer auch die Forderung nach der Rückkehr der Geiseln, aber nicht den „totalen Sieg“ über die Hamas, weil ein Großteil der israelischen Bevölkerung besser denken kann als Netanyahu. Eine Guerillagruppe wie die Hamas kann man nicht komplett ausschalten. Wer das meint, möchte alle Palästinenser vertreiben, was ja Teile der israelischen Regierung auch offen fordern und Netanyahu lässt sie das fordern.

Der in Deutschland Asyl suchende Anti-Hamas-Aktivist und Friedenskämpfer aus Gaza, Hamza Howidy, schreibt täglich gegen die Hamas und gegen den israelischen Krieg. Am 23. Juli 2025 postet er auf Facebook:

Vier Tage lang sind mutige Stimmen in Tel Aviv auf die Straße gegangen, unsere Brüder und Schwestern in Menschlichkeit, um gegen die Hungersnot in Gaza zu protestieren. Sie fordern ein sofortiges Ende des Krieges, ein Ende des Leidens im Gazastreifen und die Freilassung aller israelischen Geiseln.
Genug mit diesem Blutvergießen. (Übersetzung CH)

Und ja, auch ich habe lange Zeit bis 2024 einen Waffenstillstand abgelehnt – weil ich nicht mit Irvin Cotler gesprochen hatte, obwohl ich ihn immer wieder auf Konferenzen bis 2015 in Israel oder den USA getroffen und mit ihm diskutiert hatte. Jetzt fehlte so eine kritische Stimme und ich war gefangen im Delirium und dem fanatischen Kokon jener in Deutschland, die meinen Pro-Israel zu sein. Was viele überhaupt nicht sind, da sie keine tiefere Ahnung von Menschenrechten und dem Zionismus haben.

So sehen es auch sehr viele – sehr viele – junge und bislang zionistische Leute in den USA. Hier ist ein typisches und eloquentes Beispiel:

In den Wochen nach dem 7. Oktober gab es unfassbare Aufrufe von Knessetmitgliedern und Militärs, den Gazastreifen unterschiedslos zu bombardieren, ja den Gazastreifen platt zu machen, „den Feind zu nakben“, Hunderttausende zur Flucht aus dem Gazastreifen zu zwingen, „den Gazastreifen auszulöschen“, die Bevölkerung des Gazastreifens zu Hunger und Durst zu zwingen und einen „territorialen Preis“ für die Rückgabe des Gazastreifens an die Juden zu fordern, an der Tagesordnung.

Ich habe diese Kommentare damals ignoriert oder entschuldigt, weil ich die Psyche der Israelis zu dieser Zeit verstand – weil ich sie auch fühlte.

Nicht die blinde Wut, wahllos zu töten, sondern die Angst, den Kummer und die Sehnsucht nach einem Preis, der zu zahlen ist. Ich hatte nicht erwartet, dass Israel tatsächlich an diesen Punkt gelangen würde, an dem sich diese Emotionen in motivierte Handlungen verwandelt haben, selbst fast zwei Jahre nach diesem schrecklichen Tag. (Übersetzung CH)

Ziemlich exakt so ging es mir auch – aber die typischen Jüdische Allgemeine-Leser*innen oder Maxim Biller-Fans haben eine solche Selbstreflektion vermutlich nicht.

Dabei habe ich schon vor vielen Jahren Netanyahus rechtsextreme Politik scharf kritisiert, aber unter dem schockierenden Eindruck der unbeschreiblichen Gräuel durch die Hamas an Jüdinnen und Juden war auch ich wie gelähmt, was eine kritische Reflektion zumal des eloquenten Menschenfängers Netanyahu betrifft.

Netanyahu persönlich ist verantwortlich für das unfassbare Töten in Gaza und er wird den Zionismus vollends zerstören.

Das wäre dann der komplette Sieg der Hamas, die Benjamin Netanyahu über viele Jahre mit Milliarden Dollar via Katar unterstützt hat, um einen Keil zwischen Gaza (Hamas) und dem Westjordanland (Fatah) zu treiben.

Friedenspolitik geht anders. Zionismus geht anders.

 

Update:

Wie die Times of Israel am 24. Juli 2025 berichtet: Der Faschist Amichay Eliyahu, ein Minister für „jüdisches Erbe“ (Heritage) der israelischen Regierung möchte den ganzen Gazastreifen von Palästinensern säubern und mit Juden besiedeln, eine aktuelle und belegte Hungersnot leugnet der Fascho. Der Oppositionspolitiker Lapid attackiert den Rechtsextremismus und Rassismus von Eliyahu – einem Minister von Netanyahu, der Gaza komplett von Palästinensern säubern will.

Zugleich kündigt der französische Präsident Macron an, im September 2025 den Staat „Palästina“ völkerrechtlich anzuerkennen bei den Vereinten Nationen.

Der Jewish Forward und die Rabbinerin Jill Jacobs nehmen sich am 23. Juli 2025 die amerikanischen Juden vor und sind fassungslos ob deren Schweigen angesichts der Verbrechen der Regierung Netanyahu an den Palästinensern und vergleichen das auch mit dem genauso unethischen und abwehrenden, Israel nicht in Verantwortung nehmenden Verhalten früherer amerikanischer Juden angesichts des Massakers in Sabra und Schatila 1982, wo Israel als Besatzungsmacht einfach zuschaute und das Massaker geschehen ließ:

In 1982, as some 400,000 Israelis took to the streets in protest of the Sabra and Shatila massacre, mainstream American Jewish leaders hemmed and hawed. “We reject the idea of any participation or involvement by the Israel Defense Force in this terrible event,” Julius Berman, then-chairman of the Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations, told JTA at the time. Charlotte Jacobson, the chair of the World Zionist Organization’s America section, deplored the “trigger-quick eagerness of the world” to blame Israel for the incident.

When the Israeli commission of inquiry ultimately issued its report, it found that Israel held indirect responsibility for the massacre and that then-defense minister Ariel Sharon held personal responsibility. Nearly 50 years have passed since Sabra and Shatila. Israel is not immune from extremism, war crimes or autocracy. Yet a fear of being labelled antisemitic still deters American Jews and Jewish institutions from taking a position that is not only morally correct, but also the best way to advance love and concern for the Jewish state and its people.

But our own fear must not distract us from the reality that the biggest threat to Israel, and indeed to Judaism itself, is coming from Israel’s governing coalition. Israel is increasingly becoming an autocratic and theocratic state. This is the moment for American Jews — including both leaders and ordinary Jewish community members — to raise their voice.

Israelische Politiker und Jurist*innen fordern: Für ein sofortiges Ende des Gazakrieges, gegen die völkerrechtswidrige „Humanitäre Stadt“ im Gazastreifen („Auffanglager“)

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

 

Es reicht.

Wir können nicht länger unsere Augen verschließen und die Realität ignorieren.

Der in dieser Woche von Nir Hasson und Nurit Yohanan veröffentlichte Bericht über eine ganze Familie, die bei der Bombardierung eines Gebäudes in Gaza getötet wurde, während Rettungskräfte stundenlang daran gehindert wurden, den Ort des Geschehens zu erreichen, wird keine Seele zur Ruhe kommen lassen. Das Gleiche gilt für die Berichte über weitere 20 Menschen, die in einem der von der Gaza Humanitarian Foundation betriebenen Lebensmittelverteilungszentren getötet wurden.

Wir dürfen unsere Augen nicht verschließen. Wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken.
Wir dürfen nicht gleichgültig bleiben gegenüber dem Verlust unschuldiger Menschenleben in einem Krieg, der längst hätte beendet sein müssen.

Die Operation „Schwerter aus Eisen“ hat sich zu einem Krieg der Täuschung entwickelt.
Die Fortsetzung des Krieges fordert einen unmoralischen und ungerechtfertigten Preis – von unseren Brüdern und Schwestern, die als Geiseln gehalten werden, von unseren Söhnen und Töchtern, die im Militär dienen, und von unschuldigen palästinensischen Zivilisten.

Der Krieg muss beendet werden. Bis dahin muss die IDF ihr Verhalten bei Angriffen in dicht besiedelten Gebieten ändern.

Die israelischen Medien müssen über die Geschehnisse in Gaza berichten.
Die israelische Öffentlichkeit muss auf die Straße gehen, um ein Ende des Krieges zu fordern. Und ja, auch meine Partner in der Opposition und ich müssen viel deutlicher und nachdrücklicher ein Ende des Krieges fordern.

Es reicht.

Wir verlieren unsere Werte.
Wir verlieren unsere Widerstandsfähigkeit.
Wir verlieren unseren Weg.“ (Alle Übersetzungen aus dem Englischen in diesem Text von CH)

Das ist ein Statement vom 17. Juli 2025 des Knessetabgeordneten Gilad Kariv von der Partei Die Demokraten. Er plädiert mit großer Vehemenz für ein Ende des Krieges in Gaza.

Ein offener Brief von israelischen Juristinnen und Juristen, Richterinnen und Richtern fordert jetzt einen sofortigen Stopp der geplanten „Humanitären Stadt“ im Gazastreifen, die auf den Trümmern der Stadt Rafah von Israel gebaut werden soll und in der anfangs 600.000 Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen hineingezwungen werden sollen – nach einer Sicherheitskontrolle, dass sie keine Hamas-Leute sind und ohne die Option die Stadt wieder verlassen zu können. Das Ziel ist die Emigration der Palästinenser*innen und eine teilweise Wiederbesiedelung des Gazastreifens mit jüdischen Siedler*innen.

Das ist kriminell. Das ist illegal. Das verstößt gegen das Völkerrecht.

Damit verließe Israel nochmals den Kreis der zivilisierten Staaten, den es mit der aktuellen Kriegsführung ohnehin schon seit spätestens 2024 verlassen hat, da gezielter Hunger eine völkerrechtswidrige Waffe ist. Wer weiß, was für Folgen Hunger hat – auch für die Geiseln – sieht, wie mörderisch und selbstmörderisch die aktuelle IDF-Strategie ist. Es wird nicht nur zu einer, sondern gleich mehreren Generationen von Jihadisten geradezu erzogen, da braucht es keine Hamas, um so den Hass auf Israel zu schüren.

Diese Kriegsführung hat nichts mit Zionismus zu tun. Sie schadet den Geiseln. Sie mordet unentwegt Palästinenser*innen und greift auch – natürlich „zufällig“ und „nicht absichtlich“ – die fast einzige Kirche im Gazastreifen an, wie jetzt geschehen.

Die 16 oppositionellen Jurist*innen in Israel schreiben am 10. Juli 2025:

In Anbetracht der beschriebenen Rechtswidrigkeit stellt jede Anweisung, die Errichtung einer
„humanitären Stadt“ in Gaza vorzubereiten oder voranzutreiben, einen offenkundig rechtswidrigen Befehl dar, der nicht befolgt werden darf.
Die Ausführung dieses Plans könnte sowohl politische Personen als auch IDF-Offiziere und -Soldaten vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und in anderen Gerichtsbarkeiten erheblichen
rechtlichen Risiken aussetzen. Im Gegensatz zu Staatsoberhäuptern, die unter bestimmten Umständen Immunität genießen, genießen Politiker und Militärangehörige keine Immunität, und für die oben beschriebenen Verbrechen gilt keine Verjährungsfrist.
Jeder, der diesen Plan plant, genehmigt oder ausführt, kann persönlich für schwere internationale Verbrechen verantwortlich gemacht werden. Wir sind der Ansicht, dass aufgrund der offensichtlichen Rechtswidrigkeit die Einrede des höheren Befehls nicht möglich ist, schon gar nicht in internationalen oder ausländischen Foren. Anführer und Befehlshaber, die die IDF-Kräfte anweisen, diesen Plan auszuführen, befehlen ihnen effektiv, Handlungen auszuführen, die eindeutig rechtswidrig sind, und setzen sich damit weltweit der Strafverfolgung aus.
Wir fordern daher alle zuständigen Behörden dringend auf, sich öffentlich von diesem Plan loszusagen, ihn zu desavouieren, und sicherzustellen, dass er nicht umgesetzt wird.

Das ist ein außerordentlich wichtiger offener Brief.

Er wurde auch von zionistischen Juristen unterschrieben, die zuvor Israel gerade noch verteidigt hatten gegen den Vorwurf, in Gaza einen „Genozid“ zu verüben, die Times of Israel berichtet:

Das Schreiben wurde unter anderem von Eyal Benvenisti von der Universität Cambridge unterzeichnet, der einer der Experten war, die Israel in dem von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof angestrengten Völkermordverfahren verteidigten.

Weitere prominente Unterzeichner waren Yuval Shany von der juristischen Fakultät der Hebräischen Universität, der Schriftsätze zur Verteidigung Israels vor dem ICC eingereicht hat, sowie David Kretzmer, Eliav Lieblich, Tamar Megiddo und andere.

Der Jewish Forward und sein Kolumnist Dan Perry aus den USA klagen Benjamin Netanyahu persönlich für den Zusammenbruch des Zionismus an („The scourge of Netanyahu’s self-interest has brought Zionism to its breaking point„) und bezeichnen ihn als den „zerstörerischsten Führer in der Geschichte Israels“ („I first met Netanyahu in 1988. Here’s how he became the most destructive leader in Israel’s history.„)

Die New York Times wiederum hatte berichtet, dass es Netanyahu war, der spätestens im April 2024 einen umfassenden Geisel-Deal, der die restlichen jüdischen und weitere Geiseln der Hamas befreit hätte, nicht unterschrieb, weil seine faschistischen Regierungspartner wie Bezalel Smotrich ihr Veto einlegten und Netanyahu damit keine Mehrheit mehr im Parlament gehabt hätte und sich schutzloser seinen Gerichtsverfahren gegenüber gesehen hätte („How Netanyahu Prolonged the War in Gaza to Stay in Power„).

Zugleich haben jetzt die beiden faschistischen, rechtsextremen israelischen Politiker Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir Einreiseverbot nach Slowenien, einem EU-Land.

Wer kritisch zu Israel berichtet kann im Zweifelsfall seinen Laptop am Flughafen von der Fluggesellschaft bzw. dem „Sicherheitspersonal“ gestohlen und Tage später kaputt zurück bekommen, wie die taz von einer Kollegin berichtet. Meinungsfreiheit? Freiheit der Presse? Persönlichkeitsrechte? Das soll eine Demokratie sein? Ernsthaft?

Gleichzeitig gibt es nonstop antisemitische Demonstrationen, es werden Pro-Hamas Aufkleber geklebt und bei Antifa-Demos gegen die AfD wie in Heidelberg, werden dann wie selbstverständlich Antifafahnen und Palästina-Fahnen geschwenkt (wie am 18. Juli 2025 in Stadtteil Emmertsgrund). Wären diese Leute für Palästina und für Israel, würden sie auch eine Israelfahne schwenken.

Wieder andere fordern eine Art Konförderation zwischen zwei Staaten – Israel und Palästina – wie die Initiative Two States One Homeland oder A Land for All. Gleichwohl scheint diese Initiative das „Rückkehrrecht“ für alle Palästinenser*innen zu tolerieren (was eine zentrale Forderung der antisemitischen BDS-Bewegung ist), was auch jene Millionen Nachfahren von damals tatsächlich Vertreibenen – von denen nur noch wenige Zehntausend heute leben – bedeutete, was den Staat Palästina extrem vergrößern könnte, da ca. 5 Millionen palästinensische „Flüchtlinge“, die gar keine sind und alle lange nach 1948 in anderen arabischen Ländern oder in Europa, Amerika, Asien etc. geboren wurden, dorthin ziehen könnten.

Wer einen Krieg beginnt, so wie ihn die Araber gegen das von Holocaustüberlebenden, Zionist*innen und in Israel geborenen Juden gegründete Israel 1947/48 anfingen, und ihn verliert – hat auch völkerrechtlich verloren.

Zionismus heißt zwar gleiche Rechte für alle in Israel lebenden Menschen, aber es heißt auch eine sehr deutliche jüdische Mehrheit im Land, seit 1948 bis heute sind ca. 75 Prozent der Bevölkerung in Israel Juden. Das ist ein Zeichen, wie vielfältig dieser Staat ist, arabische Staaten sind extrem homogen und haben nach 1948 ebenfalls ca. 700.000 Juden vertrieben, von Marokko bis Irak. Auch religiös sind arabische Staaten eine nahezu komplette Einöde, es gibt nur den Islam.

Die antizionistische Szene, die als „pro-palästinensisch“ immer falsch tituliert wird, ist hoffnungslos verloren, sie kämpft nicht für ein freies Palästina, sondern verharmlost oder feiert den Islamismus und die Hamas und selbst die anti-Hamas Fraktion ist häufig antisemitisch (im Gegensatz zu Hamza Howidy jedoch!), weil sie den Zionismus und Israel ablehnt.

Die anti-antisemitische Szene ist häufig blind für den Extremismus in Israel, nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern seit Jahrzehnten. Sie hätte aber theoretisch die Möglichkeit, innezuhalten, und sich zu ändern. Aber auch hier sind seit dem 7. Oktober noch stärkere Tendenzen des Sich-Einigelns erkennbar, Abweichler*innen werden diffamiert und Selbstkritik ist für viele ein Fremdwort.

Solche kritischen jüdisch-israelischen Jurist*innen gibt hierzulande nicht in der sogenannten Pro-Israel Szene – und wenn es sie gibt, sind die Protagonist*innen meist zu feige, sich zu zeigen und unterscheiden zwischen privaten Äußerungen („Bibi ist ein elender Drecksack“, das kann ich aber öffentlich niemals sagen) und öffentlichen Auftritten.

Dazu kommen die rechtsextremen und konservativen ‚Freunde‘ und ‚Freundinnen‘ Israels, die zum Beispiel keinerlei Problem mit Treitschke- oder Felix-Wankel-Straßen in Deutschland haben, die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf auch auf gar keinen Fall als Verfassungsrichterin in Karlsruhe sehen wollen oder sich in Fragen des Natalismus- und Kinderfetisch und der Frauenverachtung wie Abtreibungsgegnerschaft mit den Ultraorthodoxen in Israel treffen, die im Schnitt 7 Kinder haben – so wie die Präsidentin der EU-Kommission -, was Israel ohnehin in wenigen Jahrzehnten an den Rand des nicht nur geistigen Zusammenbruchs führen wird, wie der Jewish Forward befürchtet:

Der nationale Selbstmordpakt der Haredi: Netanjahu ist inzwischen ganz auf einer Linie mit den bereits erwähnten Haredi-Parteien, die sich in einem massiven Konflikt mit dem Rest der Gesellschaft befinden. Die Haredi-Gemeinschaft, die den Militärdienst überwiegend verweigert und eine niedrige Erwerbsbeteiligung aufweist, wächst explosionsartig und hat im Durchschnitt fast sieben Kinder pro Familie. Sie machen inzwischen ein Sechstel der Bevölkerung aus und verdoppeln ihren Anteil in jeder Generation. Sie weigern sich, ihre Jugend säkulare Kernfächer studieren zu lassen, die sie in einer modernen Wirtschaft beschäftigungsfähig machen würden, sind von der Sozialhilfe abhängig und bestehen auf einem langjährigen Seminarstudium auf Kosten der Steuerzahler. Netanjahu, der ohne ihre politische Unterstützung keine Mehrheit hat, ist ihr wichtigster Ermöglicher geworden. Das Ergebnis ist eine demografische Zeitbombe. Wenn sich die Dynamik nicht ändert, wird es in Zukunft eine Mehrheit geben, die die Werte des modernen Israel ablehnt.

Worum es also geht? Easy:

Für Israel, gegen Benjamin Netanyahu.

Gegen antizionistischen Antisemitismus, aber auch gegen die aktuelle mörderische Militär-Politik der IDF.

Dass die meisten auch Pro-Israelis darüber hinaus ohnehin keinerlei Ahnung von einer rationalen Coronapolitik hatten (in Israel gab es jenseits der Regierung in der Public Health, Immunologie und Medizinforschung insgesamt seriöse Ansätze, Corona rational und nicht totalitär-panisch hygienestaatsmäßig zu begegnen), bis heute, dazu überhaupt keine Probleme mit ihrer Ukraine-Unterstützung haben und nie etwas zu den Pro-Holocaust-Täter Denkmälern in der Ukraine sagen oder sich gegen die Rot=Braun Ideologie des bürgerlichen Mainstream wenden, kommt ohnehin noch dazu, aber wem sage ich das. Und von kapitalistischer Herrschaft und den Verwerfungen durch die neoliberale und post-neoliberale kapitalistische Weltpolitik haben zumal in dieser Szene auch nur zu wenige eine Ahnung, da wird lieber mit CDU-Politiker*innen gekuschelt, als linkszionistisch gekämpft – gegen Kapitalismus und gegen Antisemitismus in all seinen Formen.

Die Situation als ausweglos zu bezeichnen, wäre euphemistisch.

Der legendäre Jurist Irwin Cotler sieht die Demokratie in Israel in sehr großer Gefahr

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Ein Gespräch mit dem legendären Juristen, Rechtswissenschaftler und Public Intellectual Irwin Cotler mit der Times of Israel (TOI) vom 6. Juli 2025 ist von großer Bedeutung. Darin heißt es:

„Israel musste sich der Hamas nicht allein stellen. Es hätte eine internationale Koalition mobilisieren und den Krieg abwenden können“, sagt Cotler.

„Es hat nie einen integrierten rechtlichen, diplomatischen, politischen und militärischen Strategieplan aufgestellt. Stattdessen verließ es sich ausschließlich auf eine militärische Strategie – ohne einen Plan für den Tag danach zu haben. Und selbst diese militärische Lösung hat ja offenkundig nicht wirklich funktioniert“. (Übersetzung aus dem Englischen von CH)

Das ist von großer Bedeutung. Cotler, kanadischer Zionist, Professor für Rechtswissenschaft an der McGill University in Kanada und seit 1966 regelmäßig in Israel, weiß, wovon er spricht. Er war am 7. Oktober 2023 in Israel und hat die unschilderbaren Verbrechen der Muslimfaschisten der Hamas und anderer Palästinenser mit erlebt, sie wurden ja von den Jihadisten teils live übertragen, auf Social-Media-Accounts von massakrierten Opfern gepostet und so weiter und so fort. Es waren unschilderbare Verbrechen, die Cotler nicht einmal von Berichten von den genozidalen Massakern in Ruanda her kannte, womit er sich als Jurist viel beschäftigt hat.

Cotler war vermutlich schon im Oktober 2023 weitsichtiger als wir alle – mit „wir alle“ meine ich die zionistische Fraktion, die sich hinter Israel stellte und stellt und den Krieg gegen die Hamas wenigstens am Anfang für richtig hielt.

Doch das Zitat von Cotler eingangs dieses Textes meint ja etwas anderes. Er meint, mit diplomatischen Mitteln wäre es ab Oktober 2023 möglich gewesen, international so starken Druck auf die Hamas, die Palästinenser und die arabische Welt wie auf den Finanzier der Islamfaschisten in Gaza oder dem Libanon und Syrien, den Iran, aufzubauen, dass es pro-israelisch ausgegangen wäre. Ob das stimmt?

Womöglich ja, denn selbst jetzt wird ja über die Erweiterung der Abraham Verträge verhandelt, von Washington aus. Doch Israel hat sich international gleichwohl so stark isoliert wie wohl noch nie in seiner Geschichte. Und das liegt an Benjamin Netanyahu und seiner rechtsextremen Regierung.

Sie wollten 2023, vor dem 7. Oktober, die Gewaltenteilung in Israel aushebeln und wollen das bis heute. Die geplante Entlassung der Generalstaatsanwältin schockiert Cotler bis ins Mark. Denn er, der links-liberale Jurist, den ich auf Konferenzen in den letzten 20 Jahren mehrmals persönlich getroffen habe, hat international in Diskussionen immer darauf bestanden, dass Israel eine stabile Demokratie sei, in der die Rechtsprechung und die Gewaltenteilung funktionierten würden.

Aktuell plant Israel „Auffanglager“ für 600.000 Palästinenser*innen in Rafah im Gazastreifen. Nach einer Sicherheitsprüfung, dass es sich nicht um Hamas-Kämpfer handelt, dürfen die Menschen danach dieses Lager nicht mehr verlassen und sollen zudem zur Auswanderung ‚bewegt‘ werden. Das sind offenkundig völkerrechtswidrige Vorhaben, die bekämpft gehören.

Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten? Das alles steht seit Jahren in Frage, aber noch nie so extrem wie aktuell. Und das liegt exakt an einer Person: Benjamin Netanyahu.

Es gibt die neue Partei der Demokraten, Gilad Kariv zum Beispiel, Politiker und Rabbiner, der alle paar Tage in der Knesset oder wo anders eine scharfe Rede gegen Netanyahu hält, für Frieden und für ein sofortiges Endes des Gazakrieges, die sofortige Freilassung aller Geiseln und die Zerstörung der Hamas plädiert. Das ist widersprüchlich, aber so reden Politiker eben und es ist um Äonen besser als die antidemokratische und kriminelle Politik von Benjamin Netanyahu, der im Leben nichts außer sich kennt und für nichts kämpft, außer für sein eigenes politisches Überleben.

Gilad Kariv sprach am 4. Juli auf dem Parteitag der Demokraten und plädierte in scharfen Worten für ein Ende des Krieges und betont, dass militärische Siege ohne politische Strategie, also einen Plan nach der Hamas, höchst gefährlich sind und Israel dem Nationalismus verfallen wird, wie es schon nach dem Sechstagekrieg von 1967 befürchtet wurde und ja auch so kam.

Kariv ist für einen liberalen oder linken Zionismus, für Israel als jüdischer und demokratischer Staat, gegen die jüdische Siedlergewalt im Westjordanland, für eine Einbeziehung der wohlgesonnenen arabischen Nachbarn für einen umfassenden Frieden – das ist nicht „naiv“, wie er betont, sondern folgt einer klaren „Strategie“: „Sicherheit UND Frieden“, für eine friedliche Trennung von Juden und Palästinensern, womit er sich für die Zweistaatenlösung, aber gegen die israelfeindliche Einstaatenlösung ausspricht.

Cotler und Kariv sind zwei wichtige Stimmen für Frieden, Rechtsstaatlichkeit und für den wahren Kern des Zionismus: Gerechtigkeit und Frieden.

 

„Schöngeistiger“ Bericht einer Friedensaktivistin und Überlebenden des Massakers vom 7. Oktober?

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Am Mittwoch, 28. Mai 2025, sprach in Mannheim in der jüdischen Gemeinde die israelische Kunsthandwerkerin, Mitarbeiterin in einem Reisebüro und Friedensaktivistin Irit Lahav über ihr Überleben am 7. Oktober 2023. Sie ist im Kibbutz Nir Oz geboren worden und lebte bis zum 7. Oktober dort. Das Schweizer Medium Blick hat schon am 12. Oktober 2023 über das Überleben von Irit Lahav und ihrer Tochter berichtet.

Es ging exakt um 6:29 Uhr mit einem Raketenalarm los, wie ihn viele Israelis zumal in der Nähe des Gazastreifens seit vielen Jahren gewohnt sind. Man hat dann 15 Sekunden Zeit, um in den Schutzraum zu gehen. Das machte Irit mit ihrer Tochter. Doch wenige Minuten danach hörten sie wieder Geräusche, die sich als Gewehrsalven von automatischen Waffen herausstellten, zuerst merkte das Irits Tochter, während Irit das nicht glauben konnte.

Danach wussten sie, dass es um ihr Leben ging. Was tun in einem Schutzraum, der nicht so gemacht ist, dass man ihn verriegeln oder abschließen kann? Die beiden Frauen verhielten sich mucksmäuschenstill und hatten kein Licht an. Nach einiger Zeit hatte der Bruder von Irit, der 5 km entfernt in einem Moshav lebt, die Idee, den Schutzraum mit überkreuzten Hölzern oder Ähnlichem zu verriegeln. Da sie in dem Schutzraum allerhand Gegenstände hatten, bekamen sie das mit enormem Erfindungsreichtum, einem Teil eines Paddels und einem Stück des Staubsaugers sowie Leder hin. Später dichtete Irit einen Zwischenraum zwischen Tür und Türrahmen noch mit Silberdraht ab, den sie in ihrer Schmuckwerkstatt, die sich in dem Schutzraum befindet, hatte. Insgesamt versuchten die palästinensischen Terroristen fünfmal, in den Schutzraum zu gelangen, ca. im Zeitraum zwischen 7 Uhr und dem frühen Nachmittag.

Erst kurz vor 18 Uhr wurden die beiden Frauen durch Soldaten der israelischen Armee befreit.

Ihr Schock über das komplette Versagen des eigenen Staates und der eigenen Armee sitzt sehr tief. Irit betonte, dass sie ein Jahr lang weder die israelische Nationalhymne Hatikvah hören noch die israelische Fahne sehen konnte. Bei Beerdigungen hat nicht nur sie sich abgewandt, als die israelische Fahne gezeigt wurde – so tief saß der Schock, dass das zentrale Versprechen des einzigen jüdischen Staates, seine Bewohner*innen immer zu schützen, gebrochen worden war. Bis heute ist unklar, warum und wie die Armee, die Polizei, die Geheimdienste und die Politik die Gefahr nicht sehen wollten, trotz interner Warnungen vor einem bevorstehenden Großangriff der Jihadisten aus Gaza – eine zentrale Untersuchungskommission wurde ja bislang von Netanyahu und der Regierung verhindert.

Doch noch viel schlimmer ist die arabische Sprache für Irit Lahav – sie ist traumatisiert durch das mörderische und brandschatzende Brüllen der Araber/Palästinenser, die in ihrem Haus und im ganzen Kibbutz Nir Oz wüteten. Sie hat schon Panik bekommen, als sie in Mannheim Leute Arabisch sprechen hörte – die Synagoge und das jüdische Gemeindezentrum liegen in den „Quadraten“, der Innenstadt von Mannheim, mit einem sehr hohen Migrantenanteil, speziell Türken und Araber.

Irits Vortrag in Mannheim war sehr emotional, mehrfach musste sie weinen, es sind äußerst dramatische Erinnerungen – Dutzende ihrer Freundinnen und Freunde aus dem Kibbutz sind ermordet worden, 14 noch in Geiselhaft, wo nicht klar ist, wie viele von ihnen überhaupt noch leben.

Es wurden ca. ein Drittel aller anwesenden Bewohner*innen des Kibbutz Nir Oz von den palästinensischen Terroristen am 7. Oktober ermordet oder entführt.

Seit Januar 2024 leben Irit Lahav, ihr Tochter und die anderen Überlebenden des Massakers von Nir Oz in einer Neubausiedlung in Kiryat Gat in einem Hochhaus.

Im Laufe des Abends bei der Diskussion zu ihrem gut 90-minütigen Vortrag sowie im Anschluss an die Veranstaltung wurde noch einiges klarer, was die Beziehung von Israelis, linken, friedensbewegten Jüdinnen wie Irit und einigen hier lebenden irgendwie Pro-Israel Aktivist*innen ausmacht.

Manch eine meinte im Gespräch mit anderen nach der Veranstaltung ernsthaft, „Gott haben seinen eigenen Plan, was er mit uns vorhat“, als andere erwähnten, dass „Gott wohl geschlafen habe“, als Juden lebendig verbrannt wurden von den muslimischen Terroristen.

Irit betonte, dass allein im Kibbutz Nir Oz drei Leute vor dem 7. Oktober regelmäßig palästinensische Patienten und Patientinnen in Krankenhäuser oder zur medizinischen Versorgung nach Israel fuhren. Einer der drei war Oded Lifshitz, am 7. Oktober 85 Jahre alt, er wurde von den Jihadisten ermordet, wie auch der zweite Friedensaktivist. Die dritte im Bunde war – Irit Lahav.

Sie meinte am Ende des Abends, auf die Frage, wie sie heute die Palästinenser sehen würde, dass es sehr schwer sei für sie, diese Situation in Worte zu fassen. Sie dachte wie viele andere auch, dass es primär die Hamas oder der Islamische Dschihad seien, die für den Terror verantwortlich sind. Doch sie hat gelernt, dass Kinder ab dem Alter von 3 Jahren im Gazastreifen bei Theaterstücken oder öffentlichen Auftritten lernen, dass in einem solchen ‚Stück‘ der Kernaspekt ist, Juden zu ermorden.

Sie und andere Bewohner*innen von Nir Oz haben Frauen- und männliche Teenagerstimmen gehört am 7. Oktober, manche Palästinenserin machte für ihre noch blutbespritzten Männer, Brüder, Söhne oder Neffen Sandwiches, sie schalteten die Computer der jüdischen Bewohner an und stellten die Fernseher auf arabische Sender. Eine unfassbare Situation. Mit solchen Menschen jemals Frieden machen?

Irit Lahav sagte, was traditionell zionistisch ist: „Mit FEINDEN schließt man Frieden“ – nicht mit Freunden.

Die Palästinenser*innen stahlen alles, was sie mitnehmen konnten, Löffel, Unterwäsche, Koffer, Laptops, einfach alles.

Was sie nicht fanden, war das hochwertige Rennrad von Irit, das in einem abgeschlossenen Raum auf dem Gelände stand – sie ist Triathletin.

Sarkastisch erzählte Irit dann, wie sie und ihre Tochter in ihrem Schutzraum eine Wand mit Büchern aufstellten, so dass sie, sollten die Terroristen der Hamas und andere eindringen und sofort Gewehrsalven abfeuern, durch die Bücher geschützt wären, vielleicht verletzt werden würden, aber nicht getötet. Eines der oberen Bücher, das ihr dabei in die Hände fiel, war „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches“ (ein bekanntes Werk des US-amerikanischen Historikers William Lawrence Shirer von Anfang der 1960er Jahre), darauf Irit: „Maybe this time Hitler will help us!“…

Das einzige Wertvolle, was sie ebenfalls nicht mitnahmen, die palästinensischen Judenmörder und Plünderer, war eine 46 Kilogramm schwere bronzene Buddhafigur im Haus von Irit. Sie ist sozusagen eine zionistische Buddhistin, der Dalai Lama schenkte ihr einen kunstvollen tibetischen Wandteppich, als sie vor Jahren in einem Kloster in Indien war, wie die Times of Israel in einem Bericht im März 2024 schreibt.

Bei der Diskussion in der jüdischen Gemeinde Mannheim hat sie betont, dass sie die aktuelle israelische Regierungs- und Kriegspolitik ablehnt. Ja, sie hat sich schon überlegt, ob sie die Fahrten für kranke Palästinenser*innen wieder aufnehmen würde, wenn ein Waffenstillstand herrschte – und sie meinte „ja“, das würde sie womöglich wieder tun, obwohl sie jetzt weiß, dass ein sehr großer Teil der Palästinenser*innen vom Judenhass getriebene Existenzen sind, böse Menschen.

Aber sie selbst, das betonte Irit, sie möchte kein böser Mensch sein, sondern ein guter Mensch, sie möchte nicht vom Hass getrieben sein, so verständlich der ist von Seiten der Überlebenden und Angehörigen der Opfer des 7. Oktober 2023.

Das brachte ihr im Anschluss an die Veranstaltung von manchem Teilnehmer höhnische Kommentare. Ein Teilnehmer der Veranstaltung sagte in einem privaten Gespräch, das ich mitbekam, er finde es schlimm, dass die israelische Armee „solche Leute“ wie Irit auch noch beschützen müsse (!). Viel perfider geht es kaum noch – das war ein (sich selbst so bezeichnender) „extrem rechter“ Netanyahu-Fan.

Und damit sind wir am heutigen Tag, also nur zwei Tage später, als der ehemalige Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) Reinhold Robbe dem amtierenden Präsidenten der DIG Volker Beck vorwirft, sich hinter die rechtsextreme Regierung in Jerusalem zu stellen, wie der Tagesspiegel heute (5 Uhr am Morgen) berichtet:

Innerhalb der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) gibt es Streit über den Umgang mit der Gaza-Offensive von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Der frühere DIG-Präsident Reinhold Robbe (SPD) sagte dem Tagesspiegel, der amtierende DIG-Präsident Volker Beck (Grüne) sei „inzwischen zum Sprachrohr der rechtsextremistischen israelischen Regierung geworden“.

Prompt kam ein Dementi, und der Bayerische Rundfunkt berichtete um 15 Uhr, dass Beck sich von den extremistischen Teilen der israelischen Regierung distanziere:

„Meine Aufgabe, Israel zu verteidigen, wird immer schwieriger, weil es in der israelischen Regierung Stimmen gibt, die völlig inakzeptabel sind“, sagte der frühere Grünen-Politiker in einem Interview. „Wenn Minister dazu aufrufen, die Bevölkerung in Gaza auszuhungern oder ‚ins Ausland zu schicken‘, was nichts anderes als eine ethnische Säuberung ist, dann macht das unsere Aufgabe sehr schwierig“, sagte Beck.

Beck bezog sich dabei auf Äußerungen der ultrarechten israelischen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir. Smotrich drohte kürzlich mit einer „totalen Zerstörung“ des Gazastreifens. Er sagte zudem, die Einwohner sollten im Süden des Küstenstreifens in einer „humanitären Zone“ konzentriert werden. Von dort aus sollten sie dann in großer Zahl das Gebiet verlassen und in Drittländer gehen.

Diese Kritik innerhalb der DIG zeigt, wie tief die Gräben inzwischen innerhalb der Pro-Israel Szene sind. Seit Jahren gibt es ähnliche Zerwürfnisse wegen Trump und Israel, insgesamt kann man eindeutig sagen, dass Linkszionismus für die meisten in der Pro-Israel Szene ein Fremdwort ist.

Irit Lahav betonte am Mittwoch in Mannheim schließlich, dass sie wirklich nicht weiß, wie sie reagieren würde, wenn eine der palästinensischen Frauen aus Gaza, die sie eventuell in Zukunft einmal in ein israelisches Krankenhaus fahren würde, ihre Ohrringe oder sonstigen Schmuck von ihr tragen würde …

Irit hat ihre alte Gemeinschaft von Kibbutzniks jetzt in dieser Hochhaussiedlung, aber auch den Ort in Nir Oz, der wieder aufgebaut werden wird, mit all den Granatäpfelbaumen und der Landschaft, den Feldern, der Kunst und der zionistischen Hoffnung.

Auch hier eine ganz bittere und typische Pointe: Eine Geisel erzählte nach ihrer Freilassung, dass einer der Terroristen in Gaza betonte, dass die Granatäpfel auf Niz Oz so gut schmecken würden – dabei liefert das Kibbutz gar keine Granatäpfel nach Gaza. Könnte es sein, dass das einer der Arbeiter war, der in Israel arbeitet – im Kibbutz Nir Oz – und Teil der Jihadistenbande vom 7. Oktober war?

Ihr Verhalten erinnert stark an den jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas, der das Gewährenlassen durch die israelische Besatzungsmacht von christlichen, katholisch-maronitischen Terroristen vom 16.-18. September 1982, die zwischen 500 und 3000 Palästinenser*innen in Beirut in den Flüchtlingslagern Sabra und Chatila in Beirut im Libanon niedermetzelten, absolut unerträglich fand.

350.000 Israelis demonstrierten daraufhin in Tel Aviv gegen die israelische Armee (IDF) und die israelische Regierung.

Und dann kommen die Rechten, die Neuen oder extremen Rechten und Netanyahu-Fans und lachen über Friedensaktivistinnen wie Irit Lahav, ich habe es selbst gesehen, in Mannheim. Ohne das Wort „Schöngeist“ zu verwenden, meinten sie genau das. Und Irit Lahav hat dieses einnehmende Lachen, trotz dieser unerträglichen Trauer und den Traumata, die sie hat, und den Tränen, die immer wieder kamen.

Und dann kommt Emmanuel Levinas, der in einer ganz ähnlichen Situation war, 1982, als Israel bei Kriegsverbrechen wenigstens zusah, obwohl sie hätten verhindert werden können, und heute womöglich selbst welche begeht – obwohl der Krieg gegen den Antisemitismus und Jihad 1982 so berechtigt war wie heute.

Aber: Er hat Grenzen und die hat Levinas so im Blick wie Irit Lahav. Levinas sagte in einem legendären Radio-Gespräch – wenige Tage nach dem Massaker in Beirut – mit Shlomo Malka, dem heutigen Biographen von Levinas, und Alain Finkielkraut:

Aber der Punkt, wo alles unterbrochen ist, wo alles gebrochen ist, wo die moralische Verantwortlichkeit aller, die die Unschuld betrifft, die sie reklamieren, zum Vorschein kommt und ihnen unerträglich ist, ist in den Ereignissen von Sabra und Chatila erreicht. Verantwortlichkeit aller.

Hier kann niemand uns sagen: Ihr seid in Europa und im Frieden, ihr seid nicht in Israel und ihr erlaubt es euch zu urteilen!

Ich denke, daß genau hier diese Unterscheidung zwischen den einen und den anderen, zumindest für diesen Fall, verschwindet. Man wird uns auch sagen, wie Sie es eben gesagt haben: ‚Ihr seid schöngeistig‘. Hegel ist es, der uns gelehrt hat, daß man alles sein darf, aber kein Schöngeist. Aus Angst davor, Schöngeist zu sein, wird man ein verbrecherischer Geist.

(Israel: Ethik und Politik, in: Emmanuel Levinas (2007): Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Pascal Delhom und Alfred Hirsch, Zürich/Berlin: diaphenes, S. 237-248, hier S. 243f.)

Der Journalist Nicholas Potter, gegen den eine sehr gefährliche antisemitische Kampagne von Antizionist*innen in Berlin läuft, schreibt heute über den Tod des 11-jährigen Mädchens Yaqeen Hammad in Gaza, die als „Influenzerin“ im Netz berühmt war, sie starb bei einem israelischen Luftangriff.

Er sieht offenbar „den anderen“, so wie Irit Lahav und Emmanuel Levinas „den anderen“ sehen oder sahen.

Das ist eine zutiefst jüdische Ethik, den anderen zu sehen, wie es das große Lebenswerk von Levinas bezeugt.

Die aktuelle israelische Regierung arbeitet entgegen dieser Ethik, sie will das Westjordanland zu einem Teil Israels machen und Palästinenser aus Gaza vertreiben oder ihnen das Leben dort unerträglich machen oder sie dort in unregelmäßigen Militäraktionen erschießen, absichtlich oder als Kollateralschaden zur perfiden Taktik der Hamas, sich unter Zivilisten zu mischen. Aber die Hamas kann man nicht auslöschen, das glauben nur völlig Irre und Durchgeknallte. Es geht um eine Demilitarisierung der Köpfe in Gaza, um westliche Angebote an Demokratie – das ist das einzige Mittel, dem Terror schrittweise das Wasser abzugraben. Dabei helfen auch diplomatische Kontakte zu moderateren arabischen Regimen – die Israel aktuell auch stark beschädigt.

Levinas hätte diese Politik von Benjamin Netanyahu so scharf abgelehnt, wie sie von Irit Lahav heute abgelehnt wird – im Namen des Judentums und des Zionismus und im Namen der Geiseln – Bring them Home NOW!!!

Das machte diesen Abend in Mannheim so umwerfend, die Kraft, die Irit Lahav ausstrahlt, trotz dieser Todesängste vom 7. Oktober, der unschilderbaren menschlichen Verluste, der massakrierten Freundinnen und Freunde – und trotzdem ihr Betonen, dass „wir“ jedenfalls nicht so sein wollen wie die meisten Palästinenser*innen, gerade auch solche, die zuvor Hilfe von Jüdinnen und Juden, Zionistinnen und Zionisten erfahren hatten die Jahre zuvor.

Dass ein gewisser oder gar substantieller Teil jener, die Irit Lahav zuhörten, das nicht verstehen wollen und können, war ein weiteres Drama dieses Abends und Ausdruck der politischen Kultur unserer Zeit oder eben des Zeitgeistes.

 

Die Lage ist dramatisch in Israel und in Gaza: Vier Stimmen für ein Ende des Krieges und für die Freiheit der Geiseln in Gaza

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for The Study of Antisemitism (BICSA)

Die Sache ist super komplex und eigentlich sehr einfach.

Hätten die Araber 1947 den UN-Teilungsplan für Palästina, die UN-Resolution 181, die einen jüdischen und einen arabischen Staat vorsah, akzeptiert, gäbe es seit 1947/48 einen Staat Israel neben einem Staat Palästina. Doch der Judenhass der Muslime, Araber und Palästinenser war und ist bis heute stärker.

Dabei gilt es, in der arabischen Welt und bei den Palästinenser*innen moderate Stimmen auf vielfältige Art und Weise zu unterstützen.

Doch der enorme Antisemitismus im Westen wie in Deutschland hat sich seit dem 7. Oktober so massiv und brutal gezeigt wie wohl noch nie seit 1945. Nicht nur, aber vor allem – weit überproportional – migrantische und linksextreme Antisemiten feierten den 7. Oktober und feiern jetzt die Hinrichtung von zwei jungen jüdischen Aktivisten, die letzten Mittwoch auf einer Veranstaltung des American Jewish Committee in Washington, D.C., im Jüdischen Museum von einem linken Judenhasser erschossen wurden. Die Frankfurter Rundschau berichtet:

Der Deutsch-Israeli Yaron Lischinsky und seine Partnerin Sarah Milgrim starben im Kugelhagel.

Es gibt jetzt Plakate wie in Berlin, die mit einem roten Dreieck auf die Opfer von Washington zeigen und feiern, dass diese „Zionisten“ ermordet wurden, was die Frankfurter Rundschau in ihrem Beitrag schockiert festhält.

Wir leben also in extrem krassen Zeiten.

Das heißt aber keineswegs, dass Israel nicht auch Fehler begeht oder gar Kriegsverbrechen.

Israel führt seit Ende Oktober 2023 einen Krieg gegen die Hamas, der völlig berechtigt war, aber seit langer Zeit seine Berechtigung verloren hat – weil es unmöglich ist, eine Terrorgruppe wie die Hamas zu eliminieren.

Das gezielte Aushungern des Gazastreifens über 10 Wochen hinweg, was erst vor wenigen Tagen mit der Wiederaufnahme von Hilfslieferungen leicht gemildert wurde, ist schockierend.

Klar ist die Hamas für das Elend verantwortlich, sie hat Terror und Judenhass gesät und die Infrastruktur des Gazastreifens nicht ausgebaut und seit Jahrzehnten Terror gegen Juden und Israel als Waffe eingesetzt.

Ohne das präzedenzlose Massaker des 7. Oktober gäbe es den aktuellen Krieg nicht, das darf man nie vergessen.

Es könnte im Gazastreifen viel mehr Landwirtschaft, zivile Einrichtungen, viel mehr Entsalzungsanlagen und so weiter geben – dafür gibt es Hunderte Kilometer Tunnel dieser islamistisch-faschistischen Horrortruppe – die gebaut wurden und alle wussten es.

Doch deshalb kann man nicht Millionen Menschen von Hilfslieferungen abschneiden. Das ist anti-zionistisch und schadet Israel extrem.

Die israelische Armee, die am 7. Oktober unfassbar versagt hat, möchte offenbar auch nach 18 Monaten Krieg immer noch wieder gut machen, was sie an diesem schlimmsten Tag für Juden seit der Shoah versäumten. Das ist aber nicht wieder gut zu machen. Dazu kommen die rechtsextremen Tendenzen der israelischen Regierungspolitik, die im Jahr 2023 bis einschließlich zum 6. Oktober zu den größten und am längsten anhaltenden Massenprotesten in der gesamten Geschichte Israels führten – gegen die geplante Justizreform, die eine Gewaltenteilung aushebeln würde und Israel wäre damit keine liberale Demokratie mehr.

Es geht also kurzgesagt um zwei zentrale Aspekte:

Ein Ende des Krieges gegen die Hamas und damit die Freilassung der Geiseln und somit zweitens eine Stärkung Israels, eine Rückkehr zur rationalen Bekämpfung des Antisemitismus und zum Zionismus.

Doch die IDF planen exakt das Gegenteil: keinen „Deal“ zur Freilassung der Geiseln, sondern eine Besatzung des Gazastreifens zu 75 Prozent, während die 2 Millionen Bewohner*innen in den restlichen 25 Prozent Fläche leben sollen. Das ist der aktuelle Plan (Stand 26. Mai 2025).

Aus pro-israelischer Sicht weisen auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Schärfe und Diktion aktuell viele Stimmen auf die untragbare Situation hin. Vier dieser Stimmen möchte ich heute kurz zitieren.

Erstens wendet sich am 22. Mai 2025 der Musiker Bono der Rockband U2 in einem Statement, das er live während der Preisverleihung der Ivor Awards für britische Musiker*innen in London gab, für die sofortige Freilassung aller verbliebenen Geiseln der Hamas. Und zugleich hofft er darauf, dass Israel endlich von Benjamin Netanyahu „befreit“ werde. Bono ist seit vielen Jahren pro-israelisch aktiv und hat auch der Opfer des islamistisch-antisemitischen Massakers vom 7. Oktober gedacht, weswegen ihn der Unterstützer der antisemitischen BDS-Bewegung Roger Waters (Pink Floyd) disst.

Zweitens betont der Beauftrage der deutschen Bundesregierung für die Bekämpfung des Antisemitismus, Felix Klein, in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) vom 25. Mai 2025, dass die Sicherheit und Existenz Israels deutsche Staatsräson ist. Er wendet sich selbstredend gegen die Terrorgruppe Hamas und den weit verbreiteten Antisemitismus in Deutschland. Doch Felix Klein, man hätte das von ihm nicht erwartet, distanziert sich jetzt von seiner eigenen Zustimmung zum Trump-Plan, den Gazastreifen zu einer „Riviera“ des Nahen Ostens zu machen, einem Eldorado für Immobilienmakler und Großkapitalisten wie Trump bei gleichzeitiger Entvölkerung des Gazastreifens. Er wendet sich auch gegen manche Kriegshandlungen oder die Blockade der Hilfslieferungen und sagt kategorisch:

Wir müssen uns mit aller Kraft dafür einsetzen, die Sicherheit ­Israels und der Juden weltweit zu bewahren. Aber wir müssen auch klar sagen, dass das keine Rechtfertigung für alles ist. Die Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich dramatisch zu verschlimmern, hat nichts mit der Sicherung des Existenzrechts Israels zu tun. Und es kann auch nicht deutsche Staatsräson sein.

Drittens betont der Gründer und Herausgeber der Times of Israel David Horovitz am 21. Mai 2025, dass der Krieg sofort aufhören muss, damit die wenigen noch lebenden Geiseln freikommen. Dadurch würde zwar Netanyahu seine rechtsextreme Regierungskoalition verlieren, da Hetzer wie Smotrich oder Ben Gvir die Regierung verlassen würden, aber das solle es Netanyahu wert sein, zumal dann seine Chancen bei Neuwahlen steigen würden – was natürlich absurd wäre, wenn Israel nochmal Netanyahu wählen würde, obwohl er doch einer der Hauptverantwortlichen für das nie dagewesene Versagen der IDF und der Geheimdienste am 7. Oktober 2023 war und ohnehin eine rechtsextreme Agenda fährt. Horovitz ist sehr dramatisch und wohlüberlegt mit seinen Worten und sagt:

End the war to get back the hostages. Save Israel

Viertens betont der Journalist Jan Roß von der Wochenzeitung Die Zeit, der regelmäßig Texte zu Israel und Nahost schreibt, am 22. Mai 2025,  dass es an der Zeit sei, sich gerade als Pro-Israeli gegen die aktuelle Regierungspolitik und gegen den Krieg in Gaza zu stellen:

Auch wenn Deutschland der israelischen Regierung widerspricht und ihr sogar entgegenarbeitet – mit dem Staat Israel muss es solidarisch sein.

Als vor wenigen Tagen die IDF ein Haus beschoss und neun Kinder unter zwölf Jahren tötete, nur ein Kind und der Vater überlebten, die Mutter war zuvor vom Vater zur Arbeit gefahren worden (beide Eltern sind Ärzte), gab es einen Aufschrei in Israel (die Pro-Israel Szene in Deutschland ist da meist eher ruhig oder ignorant). Die linkszionistische Szene in Israel lebt aber sehr wohl, man sieht das an den Demonstrationen, die sich ja nicht gegen den eigenen Staat wenden, sondern gegen diesen Krieg und sich für ein Ende des sehr brutalen Krieges ausspricht, der die Leute ja auch zermürbt, da er Mitte Januar beendet worden war und jetzt plötzlich wieder aufflammte, Jan Roß berichtete sehr eindrücklich darüber. Und Roß ist wie zitiert ein Pro-Israeli, darum geht es.

In Israel demonstrieren daher die letzten Tage schockierte Israelis gegen diesen Angriff, der nicht mit der ja nicht falschen, aber hier nicht nachvollziehbaren Begründung erfolgte, die Hamas würde sich unter Zivilisten verstecken. Dieses Argument war nicht immer falsch, ist aber zumal in diesem Krieg zu oft als Lüge erkannt worden, gerade von jungen Israelis, die doch alle selbst in der IDF dienten oder dienen.

Israel hat mittlerweile selbst jahrzehntelange Alliierte wie das Vereinigte Königreich (UK), Deutschland und die USA (die keineswegs nur aus Trump bestehen, sondern auch aus dem Senat etc.) gegen sich aufgebracht.

Vermutlich kein Politiker Israels seit 1948 hat den jüdischen Staat dermaßen isoliert wie Benjamin Netanyahu.

Also: Zionismus heißt, für ein Ende des sinnlosen Krieges einzutreten – eine Terrorgruppe wie die Hamas kann man nicht besiegen, da sie auch ohne Tunnel oder Waffen einfach Teil der ‚Zvilgesellschaft‘ wird, Zehntausende Kämpfer – , für die sofortige Freilassung aller Geiseln und für ein Ende des politischen Regimes unter Benjamin Netanyahu.

Es muss darum gehen, den Anti-Hamas Palästinenser*innen eine Perspektive zu geben.

Und es geht darum, jenen in die Augen zu schauen, die jetzt brüllen, dass Israel Verbrechen begehe und ihnen sagen: WAS hast du am 7. Oktober getan? Geweint oder gekichert?

Wir, die wir pro-zionistisch sind, haben das Recht, Israel zu kritisieren. Wer aber den Antisemitismus nicht bekämpft, sondern nur wartet, bis eine Reaktion Israel zu brutal oder gar kriegsverbrecherisch ausfällt, der oder die hat gar kein moralisches Recht, zu urteilen.

So einfach ist das im Zweifelsfall.

Ein Leben ohne Jihad und ohne Hunger, ein westliches, demokratisches Leben, mit freien Wahlen in einigen Jahren und mit der Perspektive mit dem Westjordanland die Zweistaatenlösung umzusetzen. Ein jüdischer Staat Israel und ein demilitarisierten Staat Palästina mit einer starken jüdischen Minderheit (den Siedlern im Westjordanland z.B.). Es ist schockierend genug, dass in Gaza keine Juden mehr leben – wie in fast allen arabischen Ländern kaum noch Juden leben, während in Israel von Anbeginn ca. 20 Prozent Araber/Palästinenser*innen leben.

Am Israel Chai.

 

„Stoppt den Krieg in Gaza“ (Haaretz, New York Times), aber: Netanyahu isoliert Israel noch weiter – die USA distanzieren sich

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Benjamin Netanyahu ist eine große Gefahr für die Zukunft des jüdischen und demokratischen Staates Israel.

Nach dem nie dagewesenen Massaker der Hamas und der Palästinenser am 7. Oktober 2023, als über 1200 Israelis auf teils unbeschreibliche Weise gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt, erschossen, lebendig verbrannt wurden und 251 Geiseln genommen wurden, von denen 59 noch im Gazastreifen sind, allerdings nur geschätzte 24 leben noch, gab es zwei Reaktionen der Weltgemeinschaft.

Einerseits tiefe Betroffenheit und Solidarität, vorneweg vom damaligen US-Präsidenten und Zionisten Joe Biden, aber auch von vielen europäischen Staaten.

Andererseits gab es umgehend an jenem Samstag, den 7. Oktober, Freudengelächter und Partystimmung, als Araber in Deutschland und weltweit Süßigkeiten verteilten und jubelten. Sie feierten das Abschlachten von Jüdinnen und Juden, schlichtweg.

Zumal die kulturelle Elite und viele ‚Linken‘ in Deutschland haben auf ihre Weise gezeigt, dass sie kein wirkliches Problem mit Judenhass hat, indem sie großteils einfach schwiegen, wenn nicht gar mehr oder weniger offen israelfeindlich agierten und weiter agieren.

Wer hat an jenem Tag nicht auch (alte) Freund*innen verloren, deren Eiseskälte oder Schadenfreude ihren immer schon in ihnen schlummernden Judenhass zum Vorschein brachten wie nie zuvor in den letzten Jahren und Jahrzehnten.

Hätte Israel im Oktober 2023 und seither eine seriöse Regierung gehabt, hätte sie die große Sympathie, die ihnen angesichts des schrecklichsten Massakers an Juden seit der Shoah von der Politik, wie vor allem von den USA, entgegenkam, nutzen können. Aber Benjamin Netanyahu hat panische Angst vor dem Gefängnis, in das er bei einer Verurteilung wegen Korruption oder anderer Delikte, die Verfahren sind noch offen, kommen könnte.

Und von daher macht er da weiter, wo er 1996 angefangen hat: Israels politische Kultur nach rechts zu schieben und im Linkszionismus den größten Feind zu sehen, größer noch als die Hamas, die ja vielmehr gerade parallel zu ihm und mit seiner Hilfe, anwuchs.

Ein Baustein für die linken Antizionisten wiederum in ihrem Kampf gegen den jüdischen und demokratischen Staat ist die sogenannte Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus von 2021, in der es in dem zentralen Abschnitt heißt:

„Kritik oder Ablehnung des Zionismus als eine Form von Nationalismus oder das Eintreten für diverse verfassungsrechtliche Lösungen für Juden und Palästinenser in dem Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen ‚zwischen dem Fluss und dem Meer‘ volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.“

Die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“, die eigentlich eine marginale Erscheinung von mehr oder weniger antizionistischen oder mit dem Antizionismus liebäugelnden Forscher*innen ist und sich aggressiv gegen die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wendet, ist zu einem Kernbestandteil des Kampfes gegen den einzigen Staat der Juden geworden.

Die Antisemitismusdefintion der IHRA, die von 35 Staaten, darunter fast alle euroäischen Staaten, unterzeichnet wurde, ist hingegen in ihrer Klarheit vorbildlich:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Weiter heißt es:

Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.

Die Partei Die Linke hat gestern auf ihrem Parteitag in Chemnitz entgegen der IHRA Definition von Antisemitismus jene Jerusalmer Erklärung zum Antisemitismus angenommen, da der antisemitisch-antizionistische Flügel in dieser Partei seit dem unerwarteten Wiedereinzug in den Bundestag massiv an Schlagkraft gewonnen hat.

Wer vor diesem Hintergrund fabuliert, „Kritik“ an Israel würde von der Antisemitismusdefinition der IHRA verunmöglich, lügt schlichtweg oder verbreitet die beliebten Fake News; der Tagesspiegel berichtet:

In der Aussprache warnte van Aken die Delegierten vor der Annahme dieses Antrags. Die Linke könne einen wissenschaftlichen Streit über die Definition von Antisemitismus nicht per Parteitagsbeschluss entscheiden. Der Parteichef wollte so verhindern, dass der Kompromiss von Halle über den Haufen geworfen wird.

In der Gegenrede erklärte die Europaabgeordnete Özlem Alev Demirel-Böhlke, dass durch die Definition der IHRA jegliche Kritik an der israelischen Regierung als Antisemitismus diffamiert werden könne. ‚Und das akzeptieren wir nicht.‘

Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist – sagen wir die Ablehnung einer bestimmten Regierungspolitik – ist gerade nicht antisemitisch, so die IHRA, aber das kümmert solche Linken nicht, die kokettieren lieber mit der Zerstörung Israels, wie es ja die Jerusalemer Erklärung erlaubt sozusagen.

Selbst Forscher, die viele bislang als Kritiker des zumal linken Antisemitismus kannten oder einschätzten, wie Wolfgang Kraushaar, kokettieren jetzt mit der oben angedeuteten „Einstaatenlösung“, ja fordern sie geradezu ein, und das in einem Gespräch mit der Wochenzeitung Jungle World vom 10. April 2025:

Anschließend führen Sie aus, dass die Zweistaatenlösung, welche bis heute die Hoffnung beflügelt, den Israel-Paläs­tina-Konflikt friedlich beilegen zu können, nicht mehr realistisch sei. Stattdessen schlagen Sie die Einstaatenlösung vor, also einen gemeinsamen Staat von Israelis und Palästinensern. Ist das nicht der utopischste aller Lösungs­ansätze?
Das ist nicht allein meine Vorstellung, eine solche hatte bereits der Religionsphilosoph Martin Buber in den 1920er Jahren ins Spiel gebracht. Im Wesentlichen basiert sie auf der Idee, eine Art von Konföderation unter einem gemeinsamen Dach zu errichten.

Die Einstaatenlösung ist kategorial antizionistisch. Und der Antizionismus ist seit 1948 die aggressivste Form des Antisemitismus, weil er sich gegen jüdisches Leben wendet. Israel ist der Staat der Juden, wer diesen Staat weg haben möchte, möchte Juden weg haben und töten, will Juden ins Meer treiben oder sonst ermorden, abschieben (nach Europa, USA etc.) oder sie zwingen, zum Islam oder Christentum zu konvertieren.

Die Einstaatenlösung wendet sich gegen jüdische Souveränität und Selbstbestimmung. Juden wären nicht mehr in der Mehrheit im eigenen Land, das kein eigenes Land mehr wäre.

Es ist ahistorisch und absurd, hier mit Martin Buber zu kommen. Denn zwischen den 1920er Jahren und heute liegt Auschwitz, liegt der arabische und islamistische Antisemitismus von Hebron 1929, der Aufstand von 1936, die Ablehnung eines palästinensischen Staaten, wie ihn die UN Resolution 181, der Teilungsplan für Palästina, am 29. November 1947 beschloss.

Und nicht zuletzt ignoriert so ein Gerede auch die Kollaboration des Mufti von Jerusalem al-Hussaini mit Hitler und den Deutschen, einem Mufti, der die antisemitische politische Kultur der Palästinenser über Jahrzehnte prägte, was wir bis heute sehen können.

Ja, es gibt moderate und weltliche, Israel akzeptierende Palästinenser*innen. Die gilt es auch mit aller Kraft zu unterstützen. Aber niemals mit einer „Einstaatenlösung“, die das Ende des Zionismus und somit Lebensgefahr für Millionen Juden bedeuten würde.

Wer sich in der Geschichte Israels etwas auskennt, weiß, dass Zionisten wie Gershom Scholem, der 1923 Alija gemacht hatte, anfänglich auch für die binationale Idee offen waren, aber nur wenige Jahre später vom kulturellen zum politischen Zionismus wechselten, weil der Judenhass der Araber schlichtweg überwältigend war.

Die bittere Ironie liegt nun darin: Sowohl die Islamisten und die Hamas, deren Fans wie auch säkulare Antisemiten / Antizionisten sind ebenso für die Einstaatenlösung wie die rechtsextreme israelische Regierung.

Die rechtsextreme Regierung Israels möchte dabei möglichst viele Palästinenser*innen vertreiben, zumal aus dem Gazastreifen, dazu das Westjordanland annektieren, aber ohne politische Rechte für die dort lebenden Millionen Palästinenser.

Es ist also unverantwortlich, gerade als Forscher und Publizist zu (linkem) Antisemitismus, die Einstaatenlösung zu propagieren.

Die rechtsextreme, ultra-nationalistische und rassistische Einstaatenlösung, die Netanyahu und seiner Koalition und einem substantiellen Teil der israelischen Bevölkerung vorschwebt, ist aber ebenso eine riesige Gefahr für den einzigen Judenstaat und für die Palästinenser.

Diese Gefahr zeigt sich jetzt von unerwarteter Seite. Donald Trump scheint sich von Israel abzuwenden. Er wird nächste Woche in den Nahen Osten fliegen und Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar besuchen – aber nicht Israel. Es ist klar, dass Trump eine Vorliebe für Monarchien, Hierarchien und Diktatoren hat. Aber viele seiner Fans – auch in Israel – dachten wohl, dass ein ultranationalistischer Netanyahu wie schon bei der ersten Amtszeit von Trump genau dessen Geschmack treffe. Pustekuchen.

Dass dies nicht so ist, betont ein Kommentar des preisgekrönten Journalisten Thomas L. Friedman in der New York Times vom 9. Mai 2025.  Friedman betont, wie fürchterlich die Hamas den Gazastreifen ins Elend gezogen hat und dass Hamas verantwortlich ist für das Massaker vom 7. Oktober. Aber Friedman betont ebenso, dass aktuell die rechtsextreme Regierung Netanyahu, vorneweg der sich selbst so bezeichnende Faschist Bezalel Smotrich, den Gazastreifen entvölkern wollen und wieder besiedeln – jüdische Siedlungen wieder bauen.

Ein besonders absurdes Argument für eine Einstaatenlösung, wie es auch Kraushaar vorbringt – ohne Kritik der Jungle World – ist die Idee, dass die jüdischen Siedlungen im Westjordanland ein Hindernis seien für eine Zweistaatenlösung? Warum? Warum sollten nicht diesen Juden, wenn sie schon dort leben wollen – freiwillig – Teil eines Staates Palästina werden, als Minderheit so wie die Araber in Israel eine Minderheit sind und zwar sogar ungefähr in einer ähnlichen Größenordnung, ca. 20 Prozent der Bevölkerung.

Trump hatte sich, so Friedman, in seiner ersten Amtszeit für die Zweistaatenlösung ausgesprochen und Friedman, dessen Kolumne sich direkt an den US-Präsidenten richtet, möchte weiterhin eine Zweistaatenlösung mit einem entmilitarisierten palästinensischen Staatsgebiet.

Wer das nicht möchte, möchte den Untergang Israels. Entweder via Ultranationalismus, Messianismus und Siedlungspolitik in Gaza wie im Westjordanland oder via der ‚linken‘, islamistischen oder säkularen Einstaatenlösung.

Friedman beendet seinen Text mit einem Zitat aus dem Editorial der Haaretz vom 7. Mai 2025, das die palästinensischen Opfer jüngster Angriffe Israels betrauert und die Situation unerträglich findet:

We must not avert our eyes. We must wake up and cry out loudly: Stop the war.

Wir wissen, dass jene, die hierzulande mit Palästinafahnen und Kefiyah demonstrieren, nicht für Palästina, sondern gegen Juden und den jüdischen Staat Israel demonstrieren, fast alle auf diesen Demonstrationen sind für die Einstaatenlösung und für die Zerstörung Israels – ansonsten könnten sie ja mit Israel- und Palästinafahne demonstrieren, aber das gibt es hierzulande nicht (in Israel schon).

Von daher gilt es, gegen Netanyahu und gegen die Einstaatenlösung aktiv zu werden, also: den Zionismus wiederbeleben, den Linkszionismus, der gleiche Rechte für alle Menschen fordert und zwei Staaten für zwei Völker, wie es 1947 von den Vereinten Nationen und somit der Weltgemeinschaft beschlossen wurde:

Israel und Palästina, Seite an Seite.

 

 

Jenseits von „sine ira et studio“ – Antisemitismuskritik und Linkszionismus, noch einmal: Eva Illouz

Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)

Im ersten Band des Handbuchs religionswissenschaftlicher Grundbegriffe von 1988 gibt es das Stichwort „Antisemitismus“. In dem Beitrag wird die Geschichte des Antisemitismus dargestellt, wobei völlig richtig auch der Antizionismus unter Antisemitismus rubriziert wird:

…freilich lebt [der Antisemitismus] der Sache nach fort im ‚Antizionismus‘ der sich seinerseits als Antirassismus ausgibt“. (S. 497)

Bei der Analyse des Antisemitismus betont der Autor, dass es hierbei „durchaus nicht ’sine ira et studio'“ (S. 496) zugehen solle, wer ganz neutral, abwägend über Judenhass schreibt, hat nicht verstanden, um was es sich dabei handelt.

Am Ende des Eintrags heißt es unter „VII. Antisemitismus nach 1945“:

Nach der Shoah ist A. nicht mehr hoffähig. Wer ihn deshalb für erledigt hält (allenfalls noch eine Sache der ‚ewig Gestrigen‘), übersieht die Surrogate, die doch im Kern dasselbe fortsetzen. Der Antizionismus kritisiert kein Volk und keine Rasse – wohl aber alle Juden, die zu Israel eine Beziehung haben. Der Mechanismus ist perfekt. Der Antizionist kann gar kein Antisemit sein, denn A. ist Rassismus, Zionismus ist (mit UNO-Mehrheit beschlossen) Rassismus, ergo: der Antizionist ist Antirassist und kann deshalb gar kein Antisemit sein (vielmehr kritisiert er die Juden, weil …) (vgl. die polemische, aber in der Aufdeckung dieses Mechanismus sehr wichtige Arbeit von Finkielkraut [„Der eingebildete Jude“, 1982, CH]). Abermals verschlingen sich im Antizionismus Rationales (berechtigte Kritik an der Politik der Regierungen Israels) mit irrationaler Überschätzung der politischen und ökonomischen Möglichkeiten der Juden und dem Erbe der antisemitischen Traditionen. (S. 504)*

Es ist vor diesem Hintergrund merkwürdig, dass der ARD-Tatort-Schauspieler Hans-Jochen Wagner angesichts der Nominierung des Medienunternehmers Wolfram Weimer, der von Religion, Familie und Tradition fabuliert und vom „eigenen Blut“ oder der „eigenen Sippe“ raunt, die aussterben würden, als neuer Kulturstaatssekretär unter Schwarz-Rot und Friedrich Merz, in einem Interview mit dem STERN ausgerechnet das Thema Künstler*innen und Gaza erwähnt und moniert, dass manche Kunstschaffenden sich politisch erklären müssten, um auftreten zu dürfen („Egal wie man zum Gaza-Konflikt steht, sollte es uns doch allen unangenehm sein, internationale Künstler irgendwelche Grundsatzpapiere unterschreiben zu lassen, bevor sie auftreten dürfen.“) Er hat nicht mitbekommen, wie antisemitisch und antiisraelisch oder eiskalt weite Teile seiner Kunstszene/Musikszene/Schauspielerszene nach dem 7. Oktober 2023 reagiert haben. Gab es Großdemonstrationen von Tatort-Schauspieler*innen gegen das genozidale Massaker der Hamas an Jüdinnen und Juden?

Was heißt „Egal wie man zum Gaza-Konflikt steht“? Damit meint er womöglich, dass es doch egal sei, ob man für oder gegen islamistischen Antisemitismus und das Abschlachten von Juden durch die Hamas ist.

Der Antisemitismus weiter Teile der Kulturszene wie im ganzen Land, der zeigte sich ja exakt am 7. und 8. Oktober 2023, Wochen vor einer militärischen Reaktion Israels.

Ganz anders hingegen die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz. In einem Interview mit der Zeitschrift K. Jews, Europe and the XXI Century vom 10. April 2025 spricht sie über Antizionismus, Linkszionismus und den Kampf gegen den Antisemitismus. Bekanntlich wurde Illouz dieses Jahr der Israel-Preis verliehen, doch der aktuelle israelische Bildungsminister Yoav Kisch forderte die Jury auf, ihr den Preis nicht zu geben. Daraufhin gab es tatsächlich eine zweite Abstimmung, die sich aber doch wieder für Illouz aussprach, aber ein Jurymitglied stimmte jetzt gegen Illouz, da sie – das war der Aufhänger für Kisch – 2021 mit über 180 anderen Israelis eine Petition an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag unterschrieben hatte, die sich gegen Kriegsverbrechen Israels im Westjordanland wendet. Dieses Jurymitglied wendet sich nun gegen Illouz und bezichtigt sie in geradezu islamistischer Manier des Verrats, auf dem die Todesstrafe stehe:

In my case and that of the prize, one of the members of the scientific committee changed her opinion and voted against me during the second meeting of the committee that the minister had demanded. The reason she invoked is nothing but stunning: she invoked an old Jewish law that designates Jews as “traitors” if they hand them over to non-Jews. This old religious law invokes the obligation to kill them. The last time it was invoked in public discourse was before Rabin’s murder.

2024 sollte der Israel-Preis in der Kategorie „technologische Innovation“ an den Unternehmer Eyal Waldman verliehen werden. Waldmans Tochter Danielle Waldman und ihr Freund Noam Shai wurde von den Jihadisten am 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Festival ermordet. Eyal Waldman war vor dem 7. Oktober als Kritiker von Netanyahu und der geplanten „Justizreform“, die sich gegen die Gewaltenteilung positioniert, in Erscheinung getreten und ist als Unternehmer, der viele Palästinenser*innen beschäftigt, bekannt. Waldman wurde auf Initiative von Yoav Kisch der Israel-Preis nicht verliehen, wie unter anderem Haaretz berichtete.

Es war tatsächlich der Mord an Rabin im Jahr 1995, der für Eva Illouz eine Welt zusammenbrechen ließ, wie sie in dem Interview sagt:

For me, the break came when Rabin was assassinated in November 1995 and Netanyahu, who had led a campaign to demonize Rabin because of the Oslo process, was elected a few months later in 1996. That was when I realized that something very bad was brewing. That was the moment of the great rupture. I understood that the religious messianists had power and that they were leading Israel to disaster. I hoped I was wrong.

Ihr Traum von Zionismus war inklusiv, auf Frieden und Zweistaatlichkeit ausgerichtet, ein Staat für die Juden, einer für die Palästinenser. Mit dem Mord am versöhnenden Rabin und dem ersten Wahlsieg von Netanyahu 1996 war dieser zionistische Traum schon fast beendet.

Und seitdem wurde es noch viel schlimmer. Der Antisemitismus wurde schlimmer.

Die Isolation Israels wurde schlimmer.

Die innere Spaltung des Landes Israels wurde noch gravierender.

Die Situation der Palästinenser angesichts von Jihad, Hamas und Islamismus, aber auch der Rassismus Israels gegenüber den Palästinensern, wurden auch noch viel schlimmer.

In einer brillanten Analyse spricht Eva Illouz von einer „Autoimmunerkrankung“ Israels – die primär den Premierminister Benjamin Netanyahu, aber auch weite Teile des Landes und der Wählerschaft infiziert hat:

The body can no longer distinguish between healthy and diseased tissue. This is what is happening in Israel. The proof? Before October 7, Netanyahu was so busy seeing the demonstrators as enemies that he did not see where the real enemy was. He did not listen to the warnings about Hamas. This government acts as if those who fight to prevent Israel from becoming a pariah state were enemies. This is an autoimmune political disease.

Die Neue Rechte, zu der Netanyahu zu zählen ist, hat im Westen seit vielen Jahren einen turbo aggressiven Kulturkampf begonnen, von Victor Orbáns Agitation gegen den Juden George Soros über Donald Trumps philosemitische Israelkumpelei bei gleichzeitiger Hofierung von Neonazis wie den Proud Boys bis hin zur AfD, den Neuen Rechten in Holland, Frankreich, Italien und vielen anderen Staaten. Familie, Reproduktion, Tradition, Anti-Inklusion, Anti-Gender, Antifeminismus, Kapitalismus, Naturzerstörung, Religion und Kampf gegen alles Linke sind die zentralen Topoi dieser Szene.

Es ist ein Kampf gegen den Universalismus und das große Versprechen des Zionismus, der Souveränität für Juden bei gleichzeitiger Freiheit für die Palästinenser bedeuten sollte – so Illouz:

I fight for peace and brotherhood with the Palestinians, those who want to live in peace, for the maintenance of democracy in Israel, and at the same time I fight against antisemitism. Only ideology and the social division of political camps make these tasks incompatible. I try to hold both ends even if it is sometimes uncomfortable. The big question this raises is this: if Zionism is hijacked by an authoritarian and anti-democratic political project, what will be left of it? Not much, I think. The endless war that Israel has been waging since the creation of the state has blunted a certain human gentleness, its capacity for universal brotherhood, its ability to distinguish between force and legitimacy. Enemies are seen everywhere and the wrong friends are chosen.

Wer ein klein wenig Einblick hat in die Pro-Israel-Szene in Europa, Deutschland oder den USA, weiß: wer nicht auf Linie ist, ist nicht Teil dieser Szene. Wer sich zum Beispiel schon 2017 gegen den Sexisten und Verschwörungsantisemiten Donald Trump wandte, wurde aus sogenannten Pro-Israel Gruppen mitunter ausgeschlossen, während ganz große Denker, Marxisten aus Wien vorneweg, und ihre Epigonen wie Nachbeter in Trump Hegels „List der Vernunft“ zu erahnen vermochten („Da lacht der Horst. Die neue Querfront? Mit Hegels „List der Vernunft“ für Trump…) und den Ton angeben.

Ganz zentral ist folgender Satz bei Illouz:

I fear that the political and moral culture of this country has been destroyed by the Occupation and messianism.

Wo finden sich in aktuellen Konferenzen, Vorträgen oder Symposien in Deutschland diese Themen: Besatzung, Messianismus und religiös-nationalistischer Fanatismus in Israel? Das sind Themen, die nicht zu Themen gemacht werden. Illouz weiß das sehr wohl, warum das so ist, auch sie redet in Israel anders als in Frankreich. In Israel ist sie Teil der Mehrheit und spricht vom israelischen Rassismus, in Frankreich ist sie eine kleine Minderheit und spricht mehr vom Antisemitismus.

Aber der Unterschied ums Ganze zu weiten Teilen der (primär nicht-jüdischen) Pro-Israel Szene in Deutschland liegt darin, dass Illouz auch hier und heute von Frankreich aus Netanyahu frontal angreift und ihn als eine riesige Gefahr für den Zionismus und die Zukunft des Staates Israel erkennt:

I protest against Netanyahu’s authoritarian excesses and the corruption of his government, against the destruction of lives in Gaza, I fear for the future of Israel, which is being undermined from within by too much division and dissent.

Das heißt hier und heute: Wer die aktuelle Hungersnot in Gaza nicht sieht – seit zwei Monaten lässt Israels aus Perfidie keine Hilfslieferungen hinein -, will sie nicht sehen und sieht in nahezu jedem, der sie erwähnt, einen Antisemiten und Israelfeind.

Selbstredend sind jene, die hier und heute und seit dem 7. Oktober 2023 mit Keffiyah rumlaufen oder Palästina-Symbole wie Fahnen an den Balkon oder das Fenster hängen oder entsprechende Aufkleber verkleben, fast immer Antisemiten.

Wer wirklich für Palästina ist, wäre ja schon seit Jahrzehnten gegen die Hamas aktiv und für ein freies Palästina Seite an Seite mit Israel. So wie das aktuell Hamza Howidy in Deutschland ist – als palästinensischer Flüchtling, der vor der Hamas floh – und Tausende andere, sehr mutige Menschen in Gaza, die ihr Leben gleich doppelt aufs Spiel setzen: sie könnten bei Demonstrationen von Israelis (der IDF) erschossen werden oder von der Hamas erkannt und am nächsten Tag massakriert werden.

Ein Intellektueller stellt sich gegen die Mächtigen. Doch was wir nicht nur hierzulande erleben ist ein Gruppendenken und ein monothematischer Rollback, der katastrophal ist: Wer nicht für Merz ist, ist gegen Israel, wer nicht für Weimer ist, ist links und wer links ist, ist antisemitisch.

So einfach ging das schon bei Corona – wer nicht für den irrationalen Maskenwahn oder die (verglichen mit richtigen Impfungen) epidemiologisch sinnfreie ‚Impfung‘ war, war ein Nazi und Schwurbler.

Beim Ukraine-Diskurs werden alle, die gegen Militärhilfen für die Ukraine und für eine diplomatische Lösung sind, als Putinversteher delegitimiert und vom Diskurs ausgeschlossen.

Beides, der Corona- wie Ukraine-Diskurs und das Reden im Mainstream wie im Duktus von Wahrheitsministerien fällt mittlerweile sogar – am Rande – der ZEIT auf („Lassen Sie uns bitte reden. Wir dürfen beim Thema Krieg und Frieden nicht dieselben Fehler machen wie während der Pandemie. Fordern diese Autorinnen und Autoren„.)

Wenn dann hierzulande jemand vom „postfaktischen Zeitalter“ redet, sind so gut wie nie die Verdrehungen, Halbwahrheiten oder schlichten Lügen („2G schützt vor Übertragung und Verbreitung des Virus“ etc. etc. etc.) der Corona-Politik-Apologeten (m/w/d) gemeint, sondern nur die irrationalen Trottel, die es in der Szene der Corona-Politik-Skeptiker*innen ja tatsächlich in nicht geringer Anzahl gibt.

Wenn hier jemand vom „postfaktischen Zeitalter“ redet, ist fast immer nur Putin gemeint, wenn es um Osteuropa geht (oder Orbán, was jeweils nicht falsch ist, aber nur die halbe Wahrheit) – aber eigentlich nie die Lügen der NATO, die sich seit Anfang der 1990er Jahre extrem aggressiv gegen Osteuropa ausgebreitet hat, obwohl es die mündliche und im Protokoll schriftlich fixierte (!) Zusage gab – gegenüber der UdSSR, die sonst niemals für eine „Wiedervereinigung“ Deutschlands gestimmt hätte! – dass sich die NATO „nicht einen inch ostwärts“ bewegen würde, wenn sich DDR und BRD zusammen schließen würden. Und von den Denkmälern und Straßenbenennungen für Nazikollaborateure und Holocausttäter in der Ukraine sprechen solche, die gerne vom „postfaktischen Zeitalter“ reden, auch fast nie.

Wo waren die zionistischen Demonstrationen gegen Trumps Pläne der Abschiebung aller Palästinenser*innen aus Gaza, um dort ein Immobilienparadies für seine kriminellen und korrupten Machenschaften und Kumpels (inklusive Netanyahu) aufzubauen?

Es ist und bleibt ein Elend: Wer als Intellektueller Kritik an Mythen übt und zudem zionistisch ist, ist eben Linkszionist und insofern vom riesigen staatsautoritären Netanyahu-Lager als Feind deklariert.

Wer hingegen Kritik an Netanyahu nur als Vehikel benutzt, um den Zionismus an und für sich abzulehnen, zeigt seine antisemitische Fratze, wenn auch oft hinter einer Maske versteckt.

Das macht die Position von Eva Illouz so nahezu einzigartig, jedenfalls was richtig berühmte heutige Intellektuelle betrifft. Sie ist und bleibt links und zionistisch. Punkt. Ich hatte darüber ja schon im Dezember 2024 berichtet.

„Woke“ Linke haben sich spätestens am 8. Oktober 2023 großteils als Antisemiten geoutet. Sie haben gekichert, geklatscht – oder geschwiegen. Nur ganz wenige gingen die Tage danach auf Pro-Israel Kundgebungen oder Demonstrationen, während im Januar 2024 Hunderttausende an Anti-AfD-Protesten teilnahmen, weil sich im November 2023 in Potsdam extreme Rechte trafen und mit der AfD rassistische Gedankenspiele diskutierten.

Doch das schrecklichste Massaker an Juden seit der Shoah hat die exakt gleichen „woken“ Linken nicht schockiert oder zum Protest animiert.

Die Rechten sind nicht besser, nur anders gepolt. Sie hetzen gegen Leute, die gegen die Familienideologie sind, gegen Religionskritiker*innen und Säkularismus und gegen Leute, die die Klimakatastrophe thematisieren und gegen sie aktiv werden. In Israel werden Kritiker*innen der Siedlungspolitik als Feinde gesehen, als ob sie Islamisten wären – dabei sind die wahren Feinde des Zionismus die militanten Siedler*innen, da sie die Worte Kompromiss, Gleichberechtigung und gleiche Rechte für Palästinenser nicht kennen.

Mittlerweile gibt es auch in Israel eine Kritik am „woken“ Konservativismus (!) – an einer „Reinheit“ der eigenen Reihen, wie es der Präsident der Ben-Gurion Universität Professor Daniel Chamovitz in der Times of Israel ausdrückt.

Am Ende des Interviews sagt Eva Illouz dann einen Satz, den hierzulande nicht eine bekannte zionistische Person – angenommen es gäbe eins ähnlich bedeutende zionistische Persönlichkeit in Deutschland, wie Eva Illouz es in Frankreich/Israel ist – zu formulieren in der Lage wäre, weil so einen Satz nur eine Intellektuelle und somit eine Linke, eine Linkszionistin zu denken und sagen vermag:

The position of the intellectual requires managing the tension between loyalty and truth all the time. I love Israel, but I am horrified by its authoritarian excesses and what seems to be a profound corruption of the state apparatus…

 

 

*Jürgen Ebach (1988): Antisemitismus, in: Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Matthias Laubscher (Hrsg.) (1988): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Band 1, Stuttgart: Kohlhammer, S. 495-504.

Seite 1 von 2

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén

Cookie Consent mit Real Cookie Banner