Von Dr. phil. Clemens Heni, Direktor, The Berlin International Center for the Study of Antisemitism (BICSA)
Heute ist Tag 701 seit dem 7. Oktober 2023, als Palästinenser, die Hamas und der Islamische Jihad die schrecklichsten Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Shoah verübten. 1200 Israelis und einige Opfer anderer Nationalität, wurden auf unschilderbare Weise gefoltert und massakriert. Die männlich-muslimische Gewalt gegen Frauen wundert nicht, ist aber in ihrer unfassbaren Brutalität an diesem Tag wirklich kaum in Worte zu fassen.
Viele Muslime, Palästinenser*innen, Araber, Linke, Neonazis und andere feierten, leugneten oder verharmlosten diese antisemitischen Massaker.
Direkt danach sprachen viele dieser Anhänger*innen der antisemitischen Internationale von „Genozid“ – sie meinten nicht die in der Tat auf den Genozid an Juden zielenden Massaker vom Tag zuvor, nein: die Antisemiten aller Länder vom 8. Oktober meinten damit die bloße Existenz des einzigen Judenstaates, Israel. Kuffiyah und Melonen und „From the River to the Sea“ und „Stop the Genocide“ sind ihre Symbole und Parolen.
Die heutigen weltweiten Holocaustverharmlosungen, Täter-Opfer-Umkehrungen und das Geschwätz von „Genozid“ kann man sich quellengesättigt und kritisch eingeordnet in dieser Wikipedia-Tabelle anschauen („Scholarly and expert opinions on the Gaza genocide„).
Dort sind über 550 Forscher*innen, Aktivist*innen oder NGOs und Forschungsverbünde aufgeführt, die sich seit Oktober 2023 bis heute mit „Genozid“ und „Gaza“ beschäftigten, die meisten davon in antisemitischer und Holocaust verharmlosender sowie antizionistischer Motivation und Diktion.
Es werden aber auch viele wissenschaftliche Stimmen zitiert, die sich gegen diese inflationäre Verwendung des Begriffs „Genozid in Gaza“ wenden.
Dass die aktuellen und unerträglichen Kriegsverbrechen Israels in Gaza zu verurteilen sind und sofort aufhören müssen, ist davon völlig unbenommen. Ich habe gezeigt, dass sie nicht das sind, was einen „Genozid“ ausmacht, der in der kritischen Forschung für den Holocaust verwendet wird.
Die Hungerpolitik Israels, das Erschießen von unzähligen Zivilist*innen und unglaublich viele weitere Kriegsverbrechen in diesem mit riesigem Abstand längsten Krieg Israels müssen sofort aufhören.
Schon jetzt sind auf unabsehbare Zeit wahre Bilder von hungernden Kindern und Erwachsenen – auch der Geiseln – mit Israel verbunden und nicht nur mit der Hamas, deren Perfidie und islamofaschistische Theorie und Praxis schon zuvor bekannt war.
Israel wird zum Paria-Staat – und das unter Freunden, unter Staaten wie England, Frankreich oder Deutschland, die nur wirklich Realitätsgestörte als Feinde Israels bezeichnen würden.
Heute nun, am Tag 701 der Geiselnahme von 251 Israelis und anderer, protestieren wieder Zehntausende, ja Hunderttausende in ganz Israel. Diesmal mit einem Schwerpunkt in Jerusalem, weil dort die Regierung sitzt.
Es geht den Demonstrant*innen, die völlig verzweifelt sind und seit vielen Monaten ihre Wut hinausschreien, um das Versagen der israelischen Regierung, das eigene Volk zu schützen und die Geiseln zu retten.
Während die IDF völlig beliebig, ohne konkrete Terrorgefahr, Hochhäuser in Gaza-City sprengt, sind die jüdischen und israelischen Geiseln am Krepieren. Für den Tod sind die Palästinenser, die Hamas und der Islamische Jihad verantwortlich.
Aber es ist auch die israelische Regierung verantwortlich, darum geht es den Demonstrant*innen. Die Times of Israel berichtet:
Vor einer großen Menschenmenge bezeichnet Einav Zangauker, die Mutter des Geisels Matan Zangauker, Premierminister Benjamin Netanjahu als den schlimmsten Feind des jüdischen Volkes.
„Pharao, Haman, sie haben Pogrome gegen uns verübt – aber Du, Benjamin Netanjahu, Du übertriffst sie alle“, sagt Zangauker, die zu den lautstärksten Kritikern des Premierministers gehört.
Zangauker wirft Netanjahu vor, den Krieg in Gaza trotz der Warnungen einiger Mitglieder des israelischen Sicherheitsapparats vor den Gefahren einer solchen Vorgehensweise ausgeweitet zu haben, um den 7. Oktober aus seinem Vermächtnis zu tilgen.
„Dein einziges Vermächtnis ist das Massaker und das Versagen vom 7. Oktober“, sagt sie.
(Übersetzung aus dem Englischen von CH)
Man kann sich den Schmerz und die tagtägliche Angst, seit 701 Tagen, der Angehörigen und Freund*innen der Geiseln nicht vorstellen. Viele haben seit 701 Tagen nicht eine einzige Nacht geschlafen.
Es geht darum, dass Netanyahu jetzt einen „Deal“ einfach nicht beantwortet, obwohl die Hamas einen vorgeschlagen hat, der fast exakt einem vorherigen Vorschlag Israels entspricht.
Die heutigen Demonstrant*innen wie die Hunderttausenden in den Letzten Wochen und die Millionen der letzten Monate, sehen in Netanyahus Politik eine perfide Politik, der es nur um die Verlängerung des Krieges geht, und nicht um den Schutz der eigenen Staatsbürger*innen, geschweigen denn um die Freilassung der letzten Geiseln.
Natürlich gibt es die Oberschlauen, die meinen, die Hamas sei gar nicht das einzige Problem, das Problem seien „die“ Palästinenser an und für sich. Damit wird es nie eine Friedenslösung geben, weil: die Palästinenser sind da. Ohne ein Ende des natürlich grotesken „Rückkehrrechts“ von niemals in Palästina vertriebenen, weil in Köln, New York City oder Helsinki geborenen Palästinenser*innen, würde es nie eine Lösung geben.
Diese Leute sind fatalistisch und haben immer die gleiche Antwort: es liegt nur und immer schon an den Arabern bzw. den Palästinensern.
Was diese Leute nie verstanden haben: mit Feinden schließt man Friedensverträge, nicht mit Freunden.
Faschos wie Smotrich oder Ben Gvir irritieren diese Leute nicht, auch wenn sie sie nicht mögen. Dass diese Leute aber den Zionismus und das Judentum, das auf der Torah und Gerechtigkeit basiert, nachhaltig beschädigen, wenn nicht zerstören – egal!
Vor diesem Hintergrund ist es so dermaßen realitätsfern, was die Jüdische Allgemeine schreibt oder was ein Ferdinand von Schirach so von sich gibt, so gut er es als Nazi-Nachfahre, der seine Familie zurecht verabscheut, sicher meint („‚Sie werden von mir kein Wort gegen Israel hören'“, stellte von Schirach mehrfach klar“).
Das ist auch gut so. Aber er sollte sich gegen die israelische Regierung wenden, darum geht es.
Also natürlich nicht gegen Israel, klar – aber gegen jene, die gegen Israel sind und das ist vorneweg, so sehen es auch heute wieder die Hunderttausenden Demonstrant*innen: Benjamin Netanyahu.
Gegen diesen Mann muss man politisch aktiv sein und sich gegen ihn äußern, wenn man für Israel ist und gegen Kriegsverbrechen, für die Freilassung der Geiseln.
Er hat womöglich nicht ganz im Blick, was die Angehörigen der Geiseln durchmachen und weigert sich, die israelische Regierung frontal zu kritisieren, wie es notwendig ist.
Denkt er, die Anghörigen würden sich gegen Israel wenden, wenn sie massiv protestieren und nach Hilfe schreien? Sie wenden sich gegen eine kriminelle und rechtsextreme, religiös-messianische Regierung, die weg gehört.
Der Knessetagabgeordnete Gilad Kariv von der neuen Partei Die Demokraten, einem Zusammenschluss linker und mitte-linker Parteien von 2024, war auf der Demonstration und sagte der Times of Israel:
„Die israelische Öffentlichkeit muss auf die Straße gehen, weil Netanjahu nicht das Richtige tun wird. Netanjahu wird nicht von Moral und Gewissen geleitet. Netanjahu ist ein Narzisst und ein Borderline- Psychopath“, erklärte Kariv. „Das Einzige, was Netanjahu bewegen wird, sind eine Million Israelis auf den Straßen und Druck aus den USA.“
Es gibt die Hilferufe von Journalisten aus Israel, die sehen, dass die Proteste in Israel allein, seit Anfang 2024 schlicht gar nichts bringen – sie brauchen massive Unterstützung von Israelfreund*innen weltweit! Darum geht es.
Netanyahu ist für den 7. Oktober hauptverantwortlich auf israelischer Seite, er hat es ermöglicht, dass es soweit kommen konnte, weil er die Warnungen von IDF-Soldatinnen nicht ernst nahm und auch viele weitere Warnungen nicht wahrhaben wollte.
Und weil er die Hamas gegen die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die jetzt von Israel in den Ruin getrieben werden soll, in Stellung brachte.
Ein Untersuchungsausschuss wird das irgendwann einmal alles detailliert aufdecken.
Die Oberschlauen werden gleich wieder kreischen, dass Abbas (PA) doch ein Holocaustleugner sei und so weiter und so fort. Sie sehen nicht, welches Spiel Israel spielt und dass es auf eine Zerstörung der Zweistaatenlösung hinausläuft, die ja die Hamas auch nicht will.
Der ehemalige Chef des Mossad, ein Zionist (die Bibi-Fans werden ihn als Antisemiten entlarven!), Yossi Cohen, fordert den sofortigen Rücktritt von Netanyahu.
Würde es in Deutschland Israelfreund*innen geben, so würden sie zu Zehntausenden, ja Hunderttausenden gegen die Kriegspolitik von Netanyahu demonstrieren, einen „Deal“ fordern, die Rückkehr der Geiseln und das sofortige Ende des Krieges.
Sie würden auch für ein Ende der aktuellen Regierung demonstrieren, gegen Rassismus und Nationalismus sowie die Drohung der israelischen Regierung, in wenigen Wochen fast die gesamte Westbank zu annektieren und somit jeglichen möglichen Frieden mit den Palästinensern, die Zweistaatenlösung, zu zerstören, jedenfalls für unabsehbare Zeit zerstören, wenn nicht für immer.
Und ohne eine solche Zweistaatenlösung hat der einzige Judenstaat keine Chance, weder im Nahen Osten noch weltweit. Netanyahu hat die engsten Partner Israels beleidigt, vor den Kopf gestoßen und direkt oder indirekt als Antisemiten beschimpft, England, Frankreich, Deutschland und auch jene Teile des US-Establishments, das sich jetzt – nicht obwohl, sondern weil sie zionistisch sind im US-Kongress! – gegen die israelische Kriegspolitik ausspricht.
Viki Cohen, die Mutter des von der Hamas als Geisel gehaltenen Nimrod Cohen, betont bei einer Großkundgebung in Jerusalem, dass „ein vollständiges Abkommen auf dem Tisch liegt“, das Netanjahu jedoch nicht unterzeichnen will.
„Es liegt ein vollständiges Abkommen auf dem Tisch, ein Abkommen, das meinen Sohn und alle Geiseln zurückbringen wird“, sagt sie vor der Residenz des Premierministers. „Mein sensibler Junge … Ich habe keine Ahnung, wie er mit dem Höllenfeuer in Gaza zurechtkommt.“
Sie sagt, dass mehrere Familien von Geiseln in der vergangenen Woche Anrufe von Geheimdienstmitarbeitern erhalten hätten, in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass die jüngste Ausweitung der IDF-Operation in Gaza-Stadt ihre Angehörigen in Gefahr bringe.
Bekanntlich sind Forderungen nach „Wandel“ oder „was Neues beginnen“ auch Kennzeichen, ewiges Kennzeichen, kapitalistischer Vergesellschaftung. Es geht immer weiter, bis zur nächsten Krise, zur nächsten Innovation, aber es bleibt immer gleich, dass Menschen wie Waren behandelt werden. Daher ist es kein Zufall, dass auch x-beliebige „Manager“ Bob Dylan hören, neoliberale Verwerter der Welt, die Kulturindustrie frisst alles und alles wird zum Fraß. Es gibt über 500 Cover-Versionen des Liedes.
Aber ich würde es denn mal zur Abwechslung friedenspolitisch und zionistisch rezipieren, es muss Wandel geben, die Demonstrant*innen in Jerusalem, Tel Aviv und ganz Israel von heute zeigen ihn an, jedenfalls viele von ihnen. Netanyahu ist aktuell der „größte Feind des jüdischen Volkes“, so sagte es heute Einav Zangauker, die Stimme des Hostage Forum.
Und auch in der Diaspora müssen die Juden endlich aufwachen, genauso wie die nicht-jüdischen Pro-Israel Aktivist*innen, sie müssen ihren Masada-Komplex bearbeiten und ablegen oder überwinden, so schwer das den meisten auch fällt.
Bob Dylan hat 1964 in Worte gefasst, was die biedere, spießige, realitätsferne deutsche Pro-Israel-Szene bis heute nicht gelernt hat und nie lernen wird:
Come mothers and fathers
Throughout the land
And don’t criticize
What you can’t understand
Your sons and your daughters
Are beyond your command
Your old road is rapidly agin’
Please get out of the new one if you can’t lend your hand
For the times they are a-changing.